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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
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seine Verbindung zu den Menschen draußen nur noch das Phantomglied eines Amputierten, immer noch schmerzend, obwohl es nicht mehr da war. Als er an der Zigarette zog und den Rauch ausstieß, fiel etwas von der Asche hinunter auf das Buch und hinterließ da, wo Joe sie wegwischte, eine graue Spur.
    Joe trank den letzten Schluck von seinem Kaffee. Am Boden der Tasse war nur noch Schaum übrig. Die Musikberieselung hatte sich geändert, der Jazz war einem gefühlvollen Song gewichen, den er kannte, ohne zu wissen, woher. Er drückte die Zigarette aus. Draußen lief ein kleines Mädchen mit einem Teddybär vorbei. Ein jugendlicher Schüler in gebügelter Hose und gebügeltem Hemd hatte Bücher bei sich. Zwei Teenagerinnen kamen eisessend daher, und als der Junge in dem weißen Hemd sie sah, lächelte er, die Mädchen lächelten zurück, und sie gingen zusammen davon. Der Song ohne Worte, der in der Luft hing, machte ihm zu schaffen, dieses anhaltende Gefühl, etwas zu wissen, ohne es richtig benennen zu können, das ihn immer irritierte. Er betrachtete den Himmel über den Gebäuden und sah, dass er sich veränderte.
    Es war eine ganz leichte Verdunkelung, eine flüchtige Dämpfung des Lichts, und als er hinsah, bemerkte er draußen auf dem Boden ein Stück Papier, das sich von selbst bewegte, in die Luft hüpfte und wie ein schmutzig weißer Schmetterling davonflog, und da wusste er, dass die Regenzeit unmittelbar bevorstand.
    Nachdem er gezahlt hatte, trat er durch die Tür nach draußen, wo er die Veränderung in der Luft riechen konnte. Die alte Dame, die in dem Laden gegenüber Englisch-Lehrbücher verkaufte, hob ebenfalls den Blick, und auf ihrem Gesicht konnte er dasselbe Verlangen sehen, das er – nur für einen kurzen Moment – in sich selbst entdeckte. Dann schritt er, knirschenden Kies unter den Stiefeln, den Parkplatz hinunter und pfiff eine Melodie. Erst kurz vor seinem Büro merkte er, dass es ein alter Dooley-Wilson-Song war, aus einem anderen verrauchten Café, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.

Eine auseinanderstiebende Wolke von Geckos
    Während er die breiten, schattigen Alleen in der Innenstadt von Vientiane entlangging, wunderte ihn wieder einmal der japanische Einfluss auf das Stadtbild. Zwischen den tief gelegenen traditionellen Häusern entlang der Lan Xang Avenue erhob sich der halb fertige Rohbau des neuen Kobayashi-Bank-Gebäudes, ein aus weiter Ferne sichtbares aufragendes Ei aus Glas und Chrom, ein fremdartiges Gebilde in dieser gediegenen königlichen Umgebung. An der Mauer eines Ladens, auf dessen Straßenauslagen sich Ananas, Wassermelonen und Lychees türmten, hing über dem Kopf des braunhäutigen Eigentümers (eines Hmong, schätzte Joe), der im Schatten saß und sich gerade eine Zigarette drehte, ein verblichenes Plakat, auf dem der laotische König und der japanische Kaiser sich unter den Worten Großostasiatische Wohlstandssphäre voreinander verneigten. Japan begegnete einem in den Autos, in der Musik, die hier und da blechern aus Lautsprechern schallte, und in den Werbezetteln für Sprachschulen, die Japans Nummer eins: Englischunterricht, für Ihre Zukunft und die Ihrer Kinder anpriesen.
    Joe überquerte Lan Xang und erblickte bald That Dam, den schwarzen Stupa, der wie eine Erinnerung an lang zurückliegende Kriege gen Himmel aufragte. Einst war er mit Gold überzogen gewesen und hatte im Licht geschimmert, doch die Beschichtung war von Eindringlingen aus Thailand oder Burma, das wusste niemand mehr so genau, entfernt und nicht mehr ersetzt worden. Aus den Rissen in den steinernen Stufen wuchs Gras. Es war ein friedlicher Ort, den er immer gemocht hatte.
    Joe erreichte das heruntergekommene Gebäude an der Ecke. Davor befand sich ein Geisterhäuschen mit Miniaturfiguren, die in seinem Hof standen, Opfergaben aus Reiswhisky und Speisen und einem brennenden Räucherstäbchen. Für einen Augenblick blieb er daneben stehen und betrachtete es flüchtig, ehe er in den Korridor trat, der kühl, staubig und dunkel war. Während er die Treppe hinaufstieg, fiel ihm auf, dass die einzige Glühbirne wieder durchgebrannt war. Das Gebäude war still. Im Erdgeschoss gab es eine zur Straße hin geöffnete Nudelsuppenküche, wo jedoch kaum einmal jemand aß. Und einen Secondhand-Buchladen, der aber noch eine Weile geschlossen bleiben würde; so lange, bis Alfred, der Inhaber, die Nachwirkungen der vergangenen Nacht würde abschütteln und sich dazu durchringen können, seinen Laden
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