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Ort der Angst (German Edition)

Ort der Angst (German Edition)

Titel: Ort der Angst (German Edition)
Autoren: Mala Wintar
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stieß den Tisch unter seinen Füßen weg. Als er schon mit dem Tod rang, zog er das Papier aus seiner Tasche. Das Zappeln seiner Beine ließ nach. Dann war es still und der Brief fiel zu Boden.
    Der Edelstein, den Miguel Duelo dem Polizisten übergeben hatte, gab den Experten Rätsel auf. Was sie auf die Schnelle feststellen konnten war, dass es sich um ein natürlich gewachsenes Mineral handelte, das jedoch nicht eindeutig zu klassifizieren war. Darüber hinaus ließ die Struktur der bearbeiteten Oberfläche darauf hoffen, dass es sich bei dem Stein tatsächlich um ein Relikt aus der Zeit der Maya handelte und nicht um eine moderne Replik. Tiefergehende Untersuchungen sollten noch folgen. In der Zwischenzeit übergab man das Kleinod dem Museum von Jachich. Der dortige Direktor war dankbar, nach dem Verlust der Mumie ein neues Ausstellungsstück präsentieren zu können. Der gewaltige Edelstein avancierte rasch zur Attraktion. Vor allem dieses ganz spezielle Feuer, das von seinem Inneren ausging, schlug die Besucher in seinen Bann. Einen ganz besonders. Der Mann war Maschinenbediener in einer nahegelegenen Fabrik. Seit er den Stein zum ersten Mal erblickt hatte, kehrte er jeden Tag nach seiner Arbeit ins Museum zurück und starrte stundenlang auf das Juwel, das auf einem roten Samtkissen hinter dem Glas einer Vitrine ruhte. Manchmal bewegte der Mann seine Lippen, ohne etwas zu sagen.
    Eines Nachts stahl er den Stein und ließ stattdessen sein ausgerissenes Auge auf dem Kissen hinter dem eingeschlagenen Schaukasten zurück. Ein im Foyer gelegtes Feuer lenkte die Aufmerksamkeit von Feuerwehr und Polizei lange genug ab, um ihn entkommen zu lassen.
    Ein Kollege fand den Mann am nächsten Morgen tot an seinem Arbeitsplatz. Der Kopf steckte restlos zerquetscht zwischen zwei Metallblöcken einer hydraulischen Presse. Er musste die Sicherheitssperre außer Kraft gesetzt haben, um sich auf diese Weise das Leben nehmen zu können.
    Gerne hätte der Museumsdirektor dem Dieb noch ganz andere Dinge angetan, aber es war zu spät. Der Edelstein war in drei Teile zerbrochen und hatte sein sagenhaftes Feuer eingebüßt. Überraschenderweise tat das seiner Popularität aber keinen Abbruch. Im Gegenteil. Dank dieser tragischen Geschichte entwickelten sich die Überbleibsel des Relikts binnen kürzester Zeit zu einem regelrechten Kassenmagneten.
    Es dauerte Monate, bis Oliver sich körperlich und seelisch einigermaßen erholte. Nachdem er zu seiner Mutter nach Deutschland zurückgekehrt war, isolierte er sich vollkommen von seiner Umwelt. Er wollte niemanden sehen. Nicht einmal Anna. Seiner Mutter gegenüber benahm er sich, als sei sie eine Fremde. Nach allem, was geschehen war, hatte jeder Verständnis für sein Verhalten. Keiner bedrängte ihn. Aber irgendwann überwand er diese Phase und kehrte zurück in die Welt der Lebenden. Anna schrieb diesen Erfolg dem neuen Ziel zu, das er sich gesetzt hatte. Er wollte Archäologe werden und stürzte sich mit Feuereifer in das Studium. Sein besonderes Interesse galt dabei der Kultur Mittelamerikas. Die Sprache der Maya erlernte er in beängstigendem Tempo. Anna fand es zwar befremdlich, dass Oliver sich nun ausgerechnet für dieses Thema so sehr erwärmte, aber vielleicht versuchte er auf diese Weise, die erlebten Schrecken zu verarbeiten.
    Jahre später nutzte Anna eine Geschäftsreise, um einen Abstecher nach Yucatán zu machen. Sie konnte es kaum erwarten, Oliver nach all der Zeit endlich wiederzusehen und stattete ihrem alten Freund einen Überraschungsbesuch auf einer seiner Ausgrabungsstätten ab.
    Allerdings gestaltete sich das Zusammentreffen weniger euphorisch, als erwartet. Oliver hatte sich sehr verändert. Seine Statur war athletischer als früher, und die Arbeit unter der tropischen Sonne hatte seiner Haut eine bronzene Tönung verliehen. Er strahlte ein enormes Selbstbewusstsein aus. Auf Annas scherzhafte Bemerkung, ob er der nächste Indiana Jones werden wolle, reagierte er nur mit einem milden Lächeln.
    Tlacaelel, der ehemalige Chiclero, war zu einem seiner engsten Mitarbeiter geworden. Es war nicht zu übersehen, dass er dem Jüngeren große Hochachtung entgegenbrachte. Eifersüchtig beobachtete Anna den freundschaftlichen Umgang, den die beiden Männer miteinander pflegten. Ihr gegenüber verhielt sich Oliver nett und zuvorkommend. Von der tiefen Verbundenheit aber, die früher zwischen ihnen bestanden hatte, war nichts geblieben.
    Einmal, als sie ihn während ihres
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