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Ort der Angst (German Edition)

Ort der Angst (German Edition)

Titel: Ort der Angst (German Edition)
Autoren: Mala Wintar
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es bleiben zu lassen, dachte der Chiclero und fuhr mit seinem Messer derart heftig über den Kopf des hölzernen Kolibris, dass es sich im Schnabel verkantete und ihn abbrach. Fluchend schleuderte Tlacaelel die Figur ins Gebüsch und steckte das Messer weg.
    „Schnell, helfen Sie uns! Er stirbt!“ rief Anna ihm zu und stolperte mit ihrer Lampe ins Freie. Eilig sprang der Chiclero auf und rannte ihr entgegen. Hinter ihr trat ein Fremder aus dem Tunnel und trug den bewusstlosen Oliver. Das Gesicht des Mannes sah übel zugerichtet aus. Viel entsetzlicher allerdings war der Anblick von Olivers blutgetränktem Hemd und diesem Ding, das in seiner Brust steckte.
    Für Fragen, was geschehen war oder wo die anderen blieben, war keine Zeit. Was nun folgte, war ein Wettlauf mit dem Tod.
    Obwohl der Chiclero kaum Hoffnung hegte, dass der Sohn seines Freundes die Tortur überleben könnte, rannten sie durch den Dschungel zurück zum Wagen. Die Männer wechselten sich mit dem Tragen des schwer Verwundeten immer wieder ab.
    Sobald der schlaglochgespickte Dschungelpfad hinter ihnen lag, trat der Chiclero das Gaspedal seines Wagens durch und jagte in halsbrecherischem Tempo zum Krankenhaus. Medizinische Fachkräfte nahmen sich Olivers dort sofort an, schnallten ihn auf eine Bahre und rollten ihn über den Flur davon. Die Zeit der quälenden Ungewissheit begann. Ein Arzt sagte später, der Junge hätte längst tot sein müssen.

 
     
    Epilog
     
    Der Mann, den Tlacaelel zunächst für Olivers Retter gehalten hatte, wurde kurz nach ihrem Erscheinen im Krankenhaus verhaftet. Anna hatte ihn dort vor aller Augen bestialischer Verbrechen bezichtigt. Völlig gelassen nahm der Mann die Anschuldigungen hin und ließ sich widerstandslos von dem Polizeitrupp festnehmen, der nur wenig später eintraf. Beim Durchsuchen seiner Taschen fasste der Sicherheitsbeamte zu seinem Entsetzen in die abgetrennte Gesichtshaut des ermordeten Museumswärters.
    Man legte dem Beschuldigten Handschellen an und brachte ihn weg. Anna sah ihm nach, bis das Polizeifahrzeug verschwunden war. Der Hass, der in ihren Augen loderte, war unbeschreiblich.
    Auf der Polizeiwache erklärte sich der inzwischen als Miguel Duelo identifizierte Mann bereit, ein umfassendes Geständnis abzulegen. „Sind Vergehen, die mehrere Jahrhunderte zurückliegen, für Sie von Interesse?“
    Der Polizist, der die Vernehmung leitete, traute seinen Ohren kaum. „Du mieser Drecksack! Wenn du hoffst, mit Unzurechnungsfähigkeit davonzukommen, hast du dich geschnitten! Du kommst hier nie wieder raus!“
    „Ich weiß!“, erwiderte der andere schmunzelnd und fügte hinzu, er trüge ein uraltes Mayarelikt bei sich, das er dem hiesigen Museum als Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden spenden wolle. Mit beiden Händen griff er in sein entstelltes Gesicht, drückte mit den Fingern an dem geschwollenen Fleisch herum und förderte einen blutverschmierten Klumpen zutage, den er dem sprachlosen Beamten auf den Tisch legte.
    Nur wenig später ging eine seltsame Wandlung mit Miguel Duelo vor sich. Aus dem beherrschten kaltschnäuzigen Psychopathen wurde ein gebrochener Mann. Das Geständnis war unterzeichnet, aber zur Verhandlung kam es nicht mehr.
    In einem zitternden Bogen kratzte der Stift noch einmal über das Papier, als Miguel in seiner Einzelzelle saß und die letzte Zeile seines Briefes vollendete. Der Stift kippte und kam in einer kreiselnden Bewegung zur Ruhe. Miguel faltete das Blatt und steckte es ein. Tränen sammelten sich in seinem gesunden Auge.
    Die Schritte des Wärters entfernten sich. Es blieb also genug Zeit. Alles war vorbereitet. Miguel schlug die Decke seiner Pritsche zurück, holte das gewundene Laken hervor und rückte den Tisch unter das Fenster. Dann stieg er hinauf. Er reckte sich und blickte durch die Gitterstäbe hinaus zum Himmel. Den provisorischen Strick befestigte er an dem Metall. Während er die Schlinge band, dachte er noch einmal über die Worte nach, die er eben niedergeschrieben hatte:
    Es war das Werk meiner Hände.
    Ich sah es und konnte nichts dagegen tun.
    Ein böser Geist hat von mir Besitz ergriffen.
    Jetzt ist er fort.
    Ob für immer, kann ich nicht sagen.
    Aber ich weiß, dass niemand mir glauben wird.
    Von ganzem Herzen bitte ich all jene um Vergebung, denen durch meine Schuld Leid widerfahren ist.
    Ich habe nur noch einen Wunsch: im Tod mit meiner Frau und meinem kleinen Jungen vereint zu sein.
    Miguel legte sich die Schlinge um den Hals und
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