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Orangenmond

Orangenmond

Titel: Orangenmond
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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Fahrrad zur Arbeit fuhr. Die Bahn nahm sie nur im äußersten Notfall, bei Sturm oder Eisregen. Sie schwang sich auf das Rad, fuhr zwischen den blau-silbernen Polizeibussen hindurch und in den warmen Abend hinaus. Der blühende Flieder an der Böschung hüllte sie in eine betörende Duftwolke. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Es war Sommer, die To-do-Liste für heute zu hundert Prozent abgearbeitet, »Fall Uwe W.« zu 99,99 Prozent gelöst. Ihre Beinmuskulatur brachte die Pedale in Schwung und fühlte sich gut dabei an. Sie dachte an gar nichts, das Leben hielt ein paar Sekunden lang inne und war einfach mal schön – bis ihr Handy klingelte. Eva hörte auf zu treten und genoss den Fahrtwind. Sollte es klingeln, sie war nicht erreichbar.
    Als sie durch die Grünanlagen an der Hindenburgstraße fuhr, meldete sich ihr Telefon mit einem summenden Vibrieren erneut. Die Ampel an der Kreuzung Jahnring sprang auf Rot, Eva hielt an und griff in ihre Jackentasche. Denk nicht mal dran! auf dem Display. Ein kribbelnder Schreck durchfuhr sie, sie drückte den Anruf mit dem Daumen weg. Weg aus ihrem Leben. Kein Hin und Her mehr. Stolz und doch mit einem flauen Gefühl ließ sie das Handy zurück in die Jackentasche gleiten. Wieder klingelte es. Denk nicht mal dran! Eva atmete tief durch, die Ampel war immer noch rot. Na gut, sie konnte ihm schließlich nicht ewig ausweichen.
    »Georg, was gibt’s?« Sie übernahm den gelangweilten Ton, den sie schon hundertmal bei Brockfeldt angewandt hatte. Er klang fast echt.
    »Eva! Du musst unbedingt heute Abend bei mir vorbeikommen, es ist etwas sehr Wichtiges! Bitte!« Sie antwortete nicht, sondern hörte am anderen Ende seinem auffordernden Schweigen zu, das langsam in ihr Ohr sickerte. »Oder jetzt gleich? Eva!?«
    »Ich … Nein, ich kann nicht!« Sehr schön, Eva, souverän klingt anders, aber du übst ja noch! Bevor sie weiterreden konnte, seufzte Georg einmal tief und legte auf.
    Autos fuhren dicht neben ihr an, Radfahrer sausten rechts an ihr vorbei, während sie regungslos wie ein Betonpoller mitten auf dem Fahrradweg stand.
    Was war das denn? Georg legte sonst nie auf. Und wie hatte seine Stimme geklungen? Sie konnte diesen Ton nicht richtig deuten. Atemlos. Aufgeregt. Drängend. Ein Hilferuf?
    Ja sicher, ganz bestimmt ein Hilferuf. Wahrscheinlich will er fragen, ob du die beiden Chamäleons von Emil in den Ferien betreuen kannst. Eva zuckte mit den Achseln. Zu Freundschaftsdiensten dieser Art hatte man sie bisher nicht groß überreden müssen. Georg trug seine Bitten meistens ganz beiläufig vor. Tu es oder lass es, aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du es machst … Dazu passte aber dieses Seufzen nicht und das Auflegen auch nicht. Nein, das da gerade am Telefon war ein echter Hilferuf an eine Freundin gewesen.
    Eva biss die Zähne aufeinander. Ja, sie war im Laufe der Jahre zu einer Freundin geworden, einer guten Freundin. Sie mochte Männer, die Frauen als Freundinnen hatten. Doch bei Georg und ihr war der Sachverhalt uneindeutig, denn zwischen ihnen stand etwas, das alles kompliziert machte, etwas, das ihr nach zwei Jahren immer noch das Gefühl gab, etwas Verbotenes zu tun: Sex.
    Wie oft hatten sie miteinander geschlafen und wann, zu welcher Gelegenheit? An einer Hand abzuzählen, na ja, vielleicht musste man doch noch die andere Hand dazunehmen. Nach diversen Partys und Geburtstagen, nach einem Ausflug mit Freunden, das letzte Mal vor zwei Monaten während eines Abends, an dem sie sich eigentlich einen Film mit Ryan Gosling ansehen wollten, der gerade auf DVD her ausgekommen war.
    Eines hatten all diese Treffen gemeinsam: Sie fanden immer bei Eva in der Wohnung statt, und Emil war natürlich nie mit dabei.
    Eva schluckte trocken. Beim ersten Mal hatten sie sich aneinandergeklammert wie die Überlebenden einer Katastrophe. Sie waren die Überlebenden einer Katastrophe.
    Und wenn wirklich nur die Chamäleons zu betreuen waren? Sie sah sich an den kommenden Sommerabenden bereits in der geräumigen Wohnung herumgehen, sah, wie sie Möbel und Bilder berührte und wie sie minutenlang ohne zu denken im hinteren Teil des Altbaus in Georgs Studio saß. Ab und zu müsste sie natürlich Theo, der eigentlich ein Weibchen war, und Sandy, die natürlich ein Weibchen war, mit lebenden Heimchen und Wüstenheuschrecken füttern und das Terrarium von innen mit Wasser besprühen.
    Wo Georg mit Emil in diesem Sommer wohl hinwollte? Island? Ibiza? Israel? Er dachte sich für Emil immer
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