Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
Vom Netzwerk:
verhedderte sich eine seiner Tragschlaufen an der Türklinke, zog die Tür vor mir zu, zog mich wieder in die Wohnung hinein. Ich warf einen letzten Blick rundum. Ich lauschte.
    Leise summte die Gasleitung.

Fliegeralarm
    Ein Rettungswagen raste über die Straßenkreuzung, ich enteilte in eine Unterführung, das Geheul der Sirene schwoll in dem riesigen Hallraum unaufhörlich an, vermischte sich mit seinem Echo zu einem lang anhaltenden Ton, Fliegeralarm, ohrenbetäubend laut. Ich dachte an das Beatmungszimmer, in dem Tanja aufgebahrt lag. An die Intubation. An die ganzen medizinischen Geräte, von denen ihr Leben abhing. Daran, daß ihr Gehirn kaputt war. Zum ersten Mal wünschte sich Alezja wohl nicht, das zu haben, was Tatsiana hatte. Hätte ich doch auf mein Handy gesehen auf der Fahrt nach Hause. Hätte ich bloß die Mailbox abgehört. Gestern abend noch.
    Ich drängte vorwärts, verfluchte mich dafür, daß ich kein Auto mehr hatte.
    Am Bahnsteig war von Alezja nichts zu sehen. Ich suchte den ganzen Zug nach ihr ab. Er war überfüllt, zwei Tage vor Silvester wollten sie alle nach Hause, in den Westen. Nichts. Keine Spur von ihr.
    Es war der erste Zug, der heute nach Hrodna ging. Ich hatte noch immer gute Chancen, vor ihr zuhause anzukommen. Zigmal versuchte ich, von unterwegs Marya zu erreichen, aber meist befand ich mich in einem Funkloch, und wenn nicht, ging niemand ran.
    Ich konzentrierte mich auf Manja. Ich ermunterte mich, daß es funktionieren würde, begann mir ein Leben mit ihrauszumalen. Wenigstens für einige Zeit. Wir gehen nach Budapest, würde ich ihr sagen. Du weißt doch: Wenn es einer hinkriegt, dann ich. Wir gehen zusammen, aber wir müssen es sofort tun, jetzt sofort, hörst du, Manja? Laß uns hingehen, wo wir herkommen.
    Der Zug hatte Verspätung, in Hrodna erwischte ich den Bus ins Städtchen nicht, ich mußte in der Bahnhofshalle auf den nächsten warten. Mir gegenüber saß ein Pensionist. Er schob sich mühevoll die Vorderzahnprothese in den Mund, justierte sie, nahm sie wieder heraus, und immer so weiter. Nach einer halben Stunde setzte ich mich auf einen anderen Platz. Über mir hing eine Schmeißfliege in den Fetzen eines Spinnennetzes. Sie war umsonst gestorben, Essen sollte man nicht verderben lassen, aber hier war weit und breit keine Spinne mehr, alles erfroren, was lebendig war.
    Ich lauerte auf den nächsten Zug, der aus Minsk kam, aber auch in dem saß Alezja nicht.
    Das Wetter schlug um, es begann zu schneien, im Bus saßen wir wie erstarrt. An der Station angekommen, schlang ich den knielangen Wintermantel enger um meinen Leib, zog den Schal über die Nase, die Wollmütze in die Stirn, daß nur ein schmaler Schlitz für meine Augen offen blieb. Die Hände barg ich in den Manteltaschen, schob den Seesack über den Kopf hinweg auf die rechte Schulter, sein Gurt führte wie eine grüne Schärpe zur Hüfte, lag über der Brust fest an und hielt die Enden des Mantels, der keine Knöpfe mehr hatte, zusammen. Einen Moment betrachtete ich mein Bild im blau schimmernden Fensterglas eines vorüberfahrenden Autos. Ich sah aus wie ein Mitglied der neuen Antiterroreinheiten. Die wenigen Gestalten im Städtchen, die mir und meinen durch den Schal ausgestoßenen Atemwolken entgegenkamen, machten einen weiten Bogen um mich.
    Ich hatte keinen Schlüssel mehr für das Haus. Die Tür war abgesperrt, ich klopfte, ich rief Manja, niemand öffnete. Dann sah ich, daß sogar das Kellerfenster, durch das Großpapa und Vater ein Kabel gezogen hatten, um die ostdeutsche Gefriertruhe anzuschließen, verrammelt war. Ich konnte also nicht einmal durch den Keller einsteigen.
    Im Augenwinkel nahm ich eine Bewegung hinter einem Fenster bei den Nachbarn wahr. Ich ging hinüber, pochte hart gegen die Tür. Die Milinkiewitsch lugte heraus, öffnete, aber nur einen Spaltbreit, sie behielt mich im Auge und den Türknopf in der Hand. Ich sagte, ich sei mit Marya verabredet, aber sie öffne nicht. Dann kam ihr Mann hinzu, ein alter Griesgram, brummte, ja, sie hätten die Kleine heute morgen wachgeklopft, schon vor halb acht, warum auch immer, sagten die beiden, sie hätten doch jetzt ein Telefon, aber Alezja habe darauf bestanden, daß sie es tun. Das Telefongespräch zwischen den beiden sei kurz gewesen. Ich fragte, ob Manja mit Gepäck weggegangen sei, erhielt von beiden aber nur ein Achselzucken. Man habe niemanden gesehen, niemand habe etwas gesehen, und jetzt müßten sie wieder an die Arbeit. Sie knallten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher