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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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Kapitel 1: Barfuß im Schnee
     
    Sebastians Bericht
     
    Tatenlos in der Sonne herumzusitzen, war noch nie mein Ding gewesen. An diesem Donnerstag Nachmittag Mitte März legte ich kurz nach 14 Uhr mein Sportphysiologie-Lehrbuch zur Seite, schnallte die abgelegte Armbanduhr ums Handgelenk und stemmte mich aus dem Liegestuhl. Ich zog das T-Shirt über den beginnenden Sonnenbrand, schloss die Glas-Schiebetür zwischen Terrasse und Wohnzimmer von außen und schlurfte zur Garage.
    Mit zwei Aldi-Tüten bepackt kam da gerade meine Mutter heraus, hatte den Türdrücker mit dem Ellenbogen betätigt und schob die Tür mit der Schulter auf.
    „ Kannst du mir vielleicht mal helfen!“
    Es hatte nicht mal eine Sekunde gedauert von dem Moment, in dem sie mich gesehen hatte, bis zu ihrer Anordnung. Außerdem hasste ich es, wenn sie zu Aldi ging. BMW Cabrio fahren und dann den armen Leuten das Zeug wegkaufen, das war so was von verlogen.
    „ Wenn ich jetzt nicht hier wäre, wärst du ja auch zurechtgekommen“, nörgelte ich und hielt ihr widerwillig die Eisentür des Garagen-Nebenausgangs auf, so dass sie den Rücken frei hatte. Sie trat mit ihren Tüten nach draußen, und ich drückte mich an ihr vorbei in die Garage.
    „ Mo-mo-moment mal!“
    „ Was denn?“
    „ Wo willst du in dem Aufzug hin?“
    Sie betrachtete mich von oben bis unten – von meinem ausgeleierten Lieblings-T-Shirt mit der Aufschrift „Du mich auch“, das ich schon zwei mal aus dem Altkleidersack gerettet hatte, über meine Fußballshorts zu meinen sockenlosen Sandalen-Füßen. Auf einmal waren ihr die Aldi-Tüten nicht mehr zu schwer.
    „ Was denn?“, fragte ich genervt zurück. „Ich könnte ja bloß was aus der Garage wollen.“
    „ Dann hättest du aber nicht die Uhr um und dich mit deinem Schlüsselbund beladen.“
    Eine Marotte von mir: Ich sammelte Schlüssel an einem alten Karabiner – neben den dreien, die ich tatsächlich brauchte, noch mal über ein Dutzend, von denen ich keine Ahnung hatte, wo sie sperrten. Der Schlüsselbund war so schwer und klotzig, dass er mir die Hose halb nach unten zog, wenn ich ihn in der Tasche hatte.
    „ Wo bin ich hier, im Knast? Ich will bloß ne Runde drehen.“
    „ Mit dem Fahrrad?“
    „ Warum nicht?“
    „ Weil du erstens bald Abi-Prüfung hast...“
    „ Aber doch nur Sport. Und Fahrradfahren ist Sport, okay.“
    „ ...und zweitens herumläufst als hätten wir August.“
    „ Es ist ja auch schon ganz schön warm.“
    „ In der Sonne vielleicht.“
    „ Du hast auch nackte Beine.“
    „ Nein, ich trage eine Strumpfhose. Zieh wenigstens feste Schuhe an.“
    „ Mir wird schon nicht kalt.“
    „ Und wenn du zur Prüfung krank wirst?“
    Damit hatte sie mich eigentlich überzeugt. Ohnehin hatte ich vorgehabt, in der Garage Socken und Schuhe anzuziehen und eine Jacke mitzunehmen – ihr Kommando-Ton aber weckte meinen Trotz, und der war gerne auch zu meinem Schaden wirksam.
    „ Keine Sorge“, sagte ich laut und konnte mir nicht verkneifen raunend hinzuzufügen: „Außerdem bin ich seit drei Wochen 18.“
    Sie stellte ihre Aldi-Tüten ab, und es war klar, was das bedeutete.
    „ Oh nein, jetzt bitte keine Grundsatz-Diskussion zum Thema Volljährigkeit.“
    Ich wollte die Garagentür von innen schließen.
    „ Sebastian!“
    „ Waaas?“
    „ Wohin willst du fahren?“
    „ Keine Ahnung. Bloß mal ein bisschen durch die Gegend.“
     
    In Wahrheit wusste ich genau, wohin ich wollte.
    Myriam Senter wohnte am anderen Ende unseres Neubaugebietes. Sie war mit mir zusammen im Sport-Leistungskurs und in verschiedenen Grundkursen, und meist war sie bei Sonnenschein im Joggingdress unterwegs. Zwei mal schon waren wir uns in der Nähe ihres Hauses begegnet, hatten uns zugelächelt und gewunken, aber ich hatte es nicht gewagt, ihren Lauf zu unterbrechen. Und in der Schule kamen wir nie zu mehr als einem flüchtigen Hallo, weil wir unterschiedlichen Cliquen angehörten. Deshalb legte ich es drauf an, sie mal allein an der Haustür zu treffen, vor dem Loslaufen. Viel Mut würde es dann nicht brauchen, ein Gespräch würde sich ganz zwangsläufig ergeben.
    Aber auch an diesem Tag hatte ich kein Glück. Ich sah weder sie noch sonst jemanden von ihrer Familie. Die Straße endete drei Häuser hinter dem Grundstück der Senters an einem Feld. Gleich dahinter begann der Wald. Ratlos drehte ich einige Runden auf der Buswendeschleife. Ich hatte keine Lust, schon wieder nach Hause zu fahren. Aber der Wald lockte mich
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