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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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mir die Tür vor der Nase zu.
    Ich blieb in der Nähe des Hauses. Den ganzen Tag. Hin und wieder wählte ich die Nummer. Das Telefon mußte noch immer ausgestellt sein, sonst hätte ich seinen penetranten Dreiklang hören müssen. Dann schaltete ich die Rufnummernunterdrückung an meinem Handy ein und versuchte es in Tatsianas Wohnung. Nach dreißigmaligem Läuten unterbrach mich die Telefongesellschaft.
    Schweiß. Trotz der Kälte klebte mir der Stoff am Rücken, am Gesäß, straffte sich um die Schenkel. Der Schnee ging wieder in Regen über. Spülte den Staub in die Straßen. Teer und Staub. Teerstaub. Den schwarzen Dunst.
    Am späten Abend gab ich auf. Ich nahm den letzten Bus nach Hrodna, suchte mir ein Hotel. Eines, in dem ich nie zuvor mit Tanja und Lesja war. Das Risiko wäre einfach zu groß gewesen, daß mich der Portier oder eine der Etagendamen erkannt hätte.
    Das Zimmer: vier mal vier Meter, hohe Wände, braunes Resopal, gehobene Unterklasse. Von der Decke baumelnd: eine Weinlaubzierat tragende weiße Lampe, die Aufhängeschnur fingerdick staubbedeckt. Auf den Tapeten Stechmückenreste, Blutkleister, gleichmäßig verteilt, ab 15 Zentimeter südlich der Decke, schwerpunktmäßig ecknah. Ein Doppelbett, klamm, drei schmale Fenster auf die Straße, schmutzigbraune Vorhänge, engmaschige Gardinen. Irgendjemand mußte hier einmal im Zimmer gefrühstückt haben. Ausgiebig. Brotkrumen zwischen Bettgestell und Boden. Ein Bad, so groß und so leer, daß es zum Tanzen einlud.
    Ich stellte meinen Seesack ab, sah in den Schrank, wie ich es immer zu tun pflege, fühlte mich beobachtet, wie immer, putzte mir die Zähne mit Mineralwasser, sorgte für einen kurzen Durchzug zwischen Fenster eins und Fenster drei, und fügte eine Stechmückenspur auf der Tapete hinzu (wie hatte das Biest bis jetzt überleben können?). Ich streckte mich auf dem Bett aus, quer über das Bett, trank einen Schnaps, der das Gefühl, beobachtet zu werden, nur verstärkte. Ich dachte an Marya. An Großpapa. Trank noch einen Schnaps und sehnte das Tageslicht herbei. Ich schlief erst ein, nachdem ich die zwei Kissen und zwei Decken hinter und über mir plaziert hatte, zwischen Bett und Wand, und sicher gehen konnte, daß mir keine Spinne übers Gesicht laufen würde. Als ob das noch etwas zu sagen, als ob mein gebrochenes Verhältnis zu Kreatürlichem hier und jetzt in meinem Leben noch einer Geste bedurft hätte.
    Am nächsten Morgen wollte ich den ersten Bus ins Städtchen nehmen, noch einmal versuchen, ob ich Marya erreichen könnte. Ich sah, daß ich einen Anruf auf der Mailbox hatte. Es war Manjas verweinte Stimme. Sie war in Minsk. Bei Alezja.
    Meine dämliche Schwester sagt, du hättest das getan. Du hättest Tanja umbringen wollen. Und sie sagt, du hättest das meinetwegen getan. Aber das stimmt doch nicht. Weshalb hättest du das tun sollen, Wasja? Sag, daß das nicht stimmt. Geh ran und sag’s mir, verdammt nochmal, Wasja.
    Ich hörte die Nachricht dreimal ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie in Tatsianas Wohnung zurückgegangen waren. Also versuchte ich, anhand der Hintergrundgeräusche zu erahnen, wo die beiden steckten. Fehlanzeige. In der Anrufliste wurde die Nummer nicht angezeigt.
    Weshalb war ich nicht auf den Gedanken gekommen, ihr ein Handy zu schenken? Es ist alles ganz anders, würde ich gesagt haben, hör mich an, Manja. Wir treffen uns in der Weststadt, bei unserem Entenpostillon. Sag deiner Schwester nichts. Es ist alles ganz anders als sie behauptet. Vertrau mir. In vier Stunden kann ich da sein. Du bist der wichtigste Mensch für mich. Der einzige, Manja.
    Eine Finte. Alezja hatte mich klassisch ausgespielt. Ich hielt es für einen Impuls, aber sie hatte mir absichtlich auf die Mailbox gesprochen. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich sofort nach Hause fahren würde, um zu Marya zu kommen. Sie mußte sie in den ersten Zug von Hrodna nach Minsk befohlen haben. Wir waren aneinander vorbeigefahren.
    Ich brauchte einen neuen Plan. Und ich wußte nicht, ob Manja in ihm noch eine Rolle spielte.
    Ich fuhr zurück nach Minsk, wußte, wo ich mir Pässe und Ausreisestempel verschaffen konnte. Bei mir waren noch 6 000 Dollar.
    Am Fahrkartenschalter saß eine Altgediente in Uniform, ihre übergroße Brust lag auf einer Tischplatte, stützte den ganzen Körper ab. Ich verlangte zwei Billets nach Warschau für den nächsten Tag. Sicherheitshalber reservierte ich das ganze Schlafwagenabteil für mich allein.
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