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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Falls ich kein Ausreisevisum auftreiben würde, könnten Manja und ich immer noch versuchen, uns in den Klappbänken zu verkriechen. Und darauf hoffen, daß es die Zöllner und Grenzer in der besoffenen Silvesternacht nicht so genau nehmen würden. Einmal in Polen würden wir es schon irgendwie schaffen, nach Ungarn zu kommen.
    Wie laut Minsk über Nacht geworden war! Aus allen Läden wummerten die Bässe auf den Bürgersteig. Das Summen synthetischer Hi-Hats. Die verzweifelten Geräusche des Warenkapitalismus. Ich nahm es als Abhärtung für Budapest.
    Grüppchenweise kamen mir Polizisten entgegen. Ich drückte mich in Hauseingänge. Wußte ja nicht, ob man schon nach mir suchte.
    Als nächstes versuchte ich, Kontakt mit meinem alten Verbindungsmann aufzunehmen. Er war wie ich Internatszögling, kurze Zeit vor mir abgegangen. Sjarhej hatte ihn empfohlen. Er hatte mir 1991 das Visum verschafft.
    Ich hatte Glück, fand ihn noch immer am selben Ort. Sogar in derselben Körperhaltung wie damals: lässig hingelümmelt auf dem Schreibtischstuhl, mit übereinandergeschlagenen Beinen, das darüberliegende wippte im Takt eines russischen Stampfrhythmus aus dem Radio. Dazu seine Stimme. Immer ein wenig zu laut. Und immer auf dem Sprung. Einer dieser Menschen, von denen man gar nicht möchte, daß sie sich Zeitfür einen nehmen, weil man Angst hat, sie ihnen eigentlich zu stehlen.
    Offiziell verkaufte er Krankenversicherungen für Ausländer.
    »Du? Was willst du hier?«
    »Eine Lebensversicherung.«
    »Tsts. Nicht mein Metier.«
    »Hast du noch deine alten Verbindungen?«
    »Kommt drauf an.«
    »Zwei Ausreisevisa. Und zwei Pässe.«
    Ich reichte ihm einen Zettel mit den Daten.
    »Puh«, machte er und zog die Mundwinkel nach unten, »wird nicht ganz billig.«
    »4 000 Dollar.«
    Er nickte beifällig.
    »Bis wann?«
    »Morgen.«
    »Unmöglich.«
    »5 000.«
    »Ich weiß nicht, wie wir an die Stempel kommen sollen.
    Morgen ist Silvester.«
    »Fünf – tau – send Dollar!«
    »Ich schau, was ich machen kann.«
    »Mein Zug geht um 18:50 Uhr.«
    »Halbe Stunde vorher. Neben dem Bahnhofsgebäude sind zwei Scheißhäuser für Gleisarbeiter. Die haben die Kameras so verstellt, daß die Videoüberwachung nicht zwischen sie reicht.«
    Ich nickte. Ich bekam Lust, eine Zigarette zu rauchen. Und meinen Namen auf den Oktoberplatz zu kotzen.
    »Hast du mal wieder was von Sjarozha gehört?« fragte ich.
    »Sag bloß, das weißt du gar nicht?«
    Er drehte sich auf seinem Stuhl einmal um die eigene Achse. Dann deutete er nach oben.
    »Ist hochgegangen. Vor fast zehn Jahren. Aufgefahren zu den Altvorderen. Tretmine in Bosnien, besoffen beim Räumkommando. Kennst doch den alten Witz, fragt der Frischling: ›Herr Kommandant, was machen wir, wenn wir auf eine Mine treten?‹ – ›Normale Vorgehensweise wäre, hundert Meter in die Luft zu springen und sich dann über eine möglichst große Fläche verteilen.‹«
    Sein Gesicht zeigte kaum Veränderung, lediglich eine Lauerhaltung. Ich nickte. Ein Grinsen wollte ich mir nicht abringen. Als ich gehen wollte, packte er mich am Ärmel.
    »Noch eins: wie alt bist du?«
    »Wieso?«
    »Na das Geburtsdatum. Im Paß. Auf dem Visum.«
    »Dreißig. Ich bin dreißig Jahre alt.«
    »Dreißig? Du siehst jünger aus. Verdammt viel jünger. Nie richtig gelebt, was?«
    Ich machte meinen Mantel los und ging zur Tür.
    »Wir schreiben 25«, feixte er mir hinterher, »das fällt weniger auf.«
    Der Nachmittag brach an. Ich fand ein Hotel, dann ein Internetcafé. Die ungarische Telefongesellschaft hatte die Kontaktdaten ihrer Kunden online gestellt. Ich suchte nach Adresse und Nummer von Gábor. Und tatsächlich wurde ich fündig. Ich erkannte Straße und Hausnummer wieder. Entweder lebte er noch immer bei Großcousine Klára, oder er hatte sie endlich beerbt.
    Es klingelte zweimal. Dann hörte ich zum ersten Mal seit zehn Jahren das Timbre seiner Stimme.
    »Ich glaub’s ja nicht, der Russe!«
    »Ich bin Weißrusse.«
    »Der Weißrusse! Ich hätte dein Organ nicht wiedererkannt. Alter, klingt dein Ungarisch scheiße!«
    »Danke, deines auch.«
    »Wie geht’s dir? Was treibst du? Das ist keine ungarische Telefonnummer, die ich da sehe, oder?«
    »Das ist ja auch keine deutsche, die ich da sehe, oder? Hast du deine kleine Deutsche nicht geheiratet?«
    »Welche Deutsche?«
    Wir schwiegen einen Moment.
    »Ach die? Totale Pleite, ich bin nie aus Ungarn weg. Hab seit einiger Zeit einen Job. Und
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