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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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osteuropäische Spurweite von 1520 mm aufeinander. Die Umspuranlagen befinden sich in riesigen Wagenhallen, in die die umzuspurenden Wagen mit Rangierlokomotiven geschoben werden. In den Gebäuden werden die Drehgestelle gelöst und die Wagenkästen angehoben. Anschließend tauscht man Gestelle und Kupplung aus, bevor die Wagen, auf neuen Drehgestellen angebracht, die Hallen Richtung Terespol in Polen wieder verlassen. Der ganze Vorgang dauert Stunden, die Reisenden können den Zug nicht mehr verlassen.
    (Aus einem Reiseführer)
    In meinen Träumen ist mein Alter stehengeblieben. Ich bin 25 Jahre. Darauf sollte auch mein Paß lauten. 25 Jahre. Keinen Monat jünger, keinen älter.
    Ich träumte. Ein Kerl, der aussah wie ein fett gewordener Gábor, veranstaltete Windhundrennen um mein Bett und nahm pro Lauf fünftausend Dollar Grundeinsatz. Als alle Rennen beendet waren, sagte er:
    »Ich geh nach oben und laß mir einen Bart wachsen.«
    »Das ist bürgerlicher Scheiß, vom After rückwärts gelabert«, antwortete ich.
    Ich träumte. Erwachte, vergaß den Traum. Träumte ihnweiter. Erwachte, erinnerte mich an den Traum. Jetzt versuche ich ihn wieder zu vergessen.
    Statt noch einmal zu Tatsianas Wohnung zu fahren oder zu meiner oder zu unserem Entenpostillon, verbrachte ich den Tag auf dem Oktoberplatz. Ich sah Bauarbeitern vor dem Kulturpalast zu, nahm Abschied von den froststarrenden Buchstaben auf dem Museum für die Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs ( Padvigu naroda zhit w wekach – Die Heldentat des Volks bestehe in Ewigkeit! ); ich schnippte eine letzte Zigarette, die ich von einem pausbäckigen Studenten geschnorrt hatte, in einen der zentral aufgestellten Blumenkübel (Nächtliche Stolperfallen für Besoffene? Oder sollten sie davon abhalten, weiterhin Namen auf das klinisch reine Pflaster zu kotzen?).
    Dann ging ich zur Njamiha, setzte mich in ein Café, lauschte den Stimmen der Jeunesse d’Or. Es waren Stimmen mit unüberhörbar russischer Metropolfärbung. Oligarchentöchterchen. Oligarchenweibchen. Ein Baß dröhnte dazwischen:
    »Eure Generation redet doch wirklich nur noch von Geld. Geld und Mobiltelefone. Das Telefon ist das Erbe des Kommunismus.«
    Aus mir platzte ein Lachen, das nicht mehr mir zu gehören schien. Es gehorchte mir jedenfalls nicht. Von allen Tischen starrte man zu meinem herüber, und ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen, ich lachte und lachte, stand auf, langte nach meinem Seesack, noch immer von Lachen geschüttelt, dann trat ich an den Nebentisch, legte mein Handy zwischen die Kaffeetassen, und sagte, die letzten Zuckungen in meinen Mundwinkeln verbergend, zu dem auf die Tischoberfläche starrenden Familienvater:
    »Sie haben recht. Hier. Nehmen Sie, Gaspadin. NehmenSie den Kommunismus aus meinen Händen. Nehmen Sie ihn entgegen.«
    Es war bereits viertel vor sieben, in fünf Minuten ging mein Zug. Ich spürte, wie die Kopfschmerzen kamen. Dann hörte ich Kies knirschen, Schritte näherkommen.
    »Die gute Nachricht zuerst: zwei Visa für die Ausreise.«
    »Ich brauche nur noch eines.«
    Er hob eine Augenbraue. Wie Vater. Ich warf einen Blick in das Dokument. Es war auf meinen richtigen Namen ausgestellt.
    »Das ist die schlechte Nachricht: auf die Schnelle gibt’s keine neuen Pässe. Dafür nehme ich auch nur 3 000.«
    »Du lieferst mir die Hälfte. Du bekommst auch nur die Hälfte.«
    Er knurrte, ich solle zur Hölle fahren. Als er das Geld in Händen hielt, wünschte er mir doch noch eine gute Reise, beehren sollte ich ihn so bald nicht wieder. Ich bestieg den Zug im allerletzten Moment. Die Schaffnerin sah böse auf mich herab. Erst als ich auf Augenhöhe war und sie mit der unschuldigsten mir zu Gebote stehenden Miene anlächelte, lächelte sie zurück.
    Es sah gut aus. Wie letztes Mal auch. Das Visum wirkte tadellos. Ich konnte nur hoffen, daß sie mich noch nicht suchten. Ich nahm mir vor, genau auf die Reaktion des Zugpersonals zu achten.
    Stanislau hatte recht behalten. Die Frage war nicht, ob man mich hier haben wollte. Die Frage war, wie ich hier wieder rauskäme.
    Ich reichte Paß und Visum an die Zugbegleiterin weiter. Sie monierte, daß das Ausreiseformular nicht vorschriftsgemäß eingeklebt war. Ich bat um Entschuldigung und Einsichtin den Paß, ließ eine Hundertdollarnote darin verschwinden. Sie sah mich nicht mehr an, steckte die Papiere ein und ging.
    Bis Baranawitschy waren es knapp zwei Stunden. Vorher würde die Miliz nicht zusteigen.
    In
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