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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Beton auf Stahl. Stahl auf Beton.
    Sekundenschlaf.
    Meine Erinnerungen springen vor und zurück, vor und zurück.
    Alle Toten von Brest, alle Helden von Brest.
    Brest Zentralny.
    Die weibliche Ansagestimme.
    Wortfetzen aus dem östlichen Bahnhof.
    Herübergeweht durch den Nachtwind.
    Anschluß an die Züge nach Minsk, Moskau, Almaty, Kiew.
    So leicht wirst du die Baba Jaga nicht los.
    Die Notbeleuchtung über der Tür springt an.
    Das haben schon andere probiert.
    Grünes, blaues, gelbes Flackern.
    So leicht wirst du die Toten nicht los.
    Sekundenschlaf.
    Vor und zurück, vor und zurück.
    Brest Zentralny.
    Alle fahren wir zur Hölle.
    Du hättest die Seele der Baba Jaga finden müssen.
    Stahl auf Beton.
    Du hättest die Seele der Baba Jaga töten müssen.
    Sie hält sie in einer Nadel versteckt.
    Die in einem Ei liegt.
    Das in einer Ente ruht.
    Die in einem Hasen gründelt.
    Der in einer eisernen Kiste sitzt.
    Vergraben unter einer Eiche.
    Auf einer Insel.
    Weit draußen im Meer.
    Hin und her.
    Hin und her.
    Röööt. Röööööööööt. Die Besoffenen bliesen eine Nachtmusik. Sie rüttelten an der Abteiltür, schmetterten sie auf, brüllten »S nowym godam! Frohes neues Jahr!«, röööt, sie zogen weiter, von Abteil zu Abteil, röööööt, »Frohes neues Jahr, gottverdammte Scheiße auch!«
    Sie kommen, meine großen dunklen Pferde kommen!
    Ich schüttelte den Schlaf ab, trat auf den Gang. Die Kopfschmerzen gaben einen Moment Ruhe, aber ich konnte mein Gleichgewicht nicht finden. Ich stützte mich rechts und links ab, schob mich, zog mich vorwärts, vorbei an den umherirrenden Gestalten,
    Mit dem sachten und rauschenden Innern ihrer Hufe kommen sie
    um endlich die Plattform zwischen den zwei Liegewagen zu erreichen,
    Die Pferde des Schlafs galoppieren,
    galoppieren über das Land!
    Ich wollte rauchen, blickte aus der offenen Tür, und sah einem vielleicht vierzigjährigen Bahnarbeiter direkt in die Augen.
    »Frohes neues Jahr«, sagte ich.
    »Dir auch, Brüderchen.«
    »Kann ich dir eine Zigarette abkaufen?«
    »Nein.«
    Er sah mich durchdringend an.
    »Aber du kannst eine mit mir rauchen. Auf das frohe neue Jahr.«Ich stellte mich auf die unterste Treppenstufe, überragte ihn so um Haupteslänge. Wir rauchten schweigend. Bei den letzten Zügen blitzte es in meinem Schädel auf. Ich drückte die Zigarette aus, klopfte Brüderchen auf die Schulter, schleppte mich zurück ins Abteil.
    Ich verfiel wieder in einen grauen Schlaf.
    Vor und zurück. Vor und zurück.
    Das Licht ging an, die Tür rauschte auf, ein Schäferhund sprang herein, sprang auf mich zu, fletschte die Zähne, sprühte Funken aus seinen Augen, der Zöllner rief ihm etwas zu, nur die linke Hälfte seines Kopfes schien in der Abteiltür auf. Die Nase des Tiers senkte sich, zog über den Boden hinweg in die Ecken des Abteils, dann kehrte es zu seinem Herrchen zurück. Licht aus. Die Tür wurde mit einem Ruck zugezogen.
    Wir hatten die Umspurhallen verlassen. Der Zug fuhr wieder. Langsam trottete er dahin. Er ruckte. Mußte sich erst an seine neue Haut gewöhnen. Mußte in sie hineinwachsen.
    Ich öffnete die Jalousien ganz, sah in die Nacht hinaus. Sah Lichter. Da vorn war Terespol. War Polen. War das blaue Schild der Europäischen Union.
    Es roch nach Erbsen. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich rannte zur Toilette, um mich zu übergeben, sie war noch immer verschlossen, rannte weiter zur Plattform, wo ein Müllsack hing, spie hinein, es war kaum mehr als Galle, befreite nicht. Ich sah, wie ein Schaffner an mir vorübereilte, ich bekniete ihn geradezu, und er schloß mir widerwillig eine der Zugtoiletten auf, nicht ohne darauf hinzuweisen, daß dies gegen die Vorschrift war.
    Zweimal verlor ich das Bewußtsein, zweimal schlug ich mit dem Kopf gegen die Bodenheizung, zweimal kam ich so wieder zu Bewußtsein. Mir schien es eine halbe Ewigkeit, dieich so zugebracht hatte. Der Zug war in diesem Moment zum Stehen gekommen.
    Ich wankte zurück zu meinem Abteil. Die Schaffnerin sah mich schon von fern, huschte aus ihrem Coupé und paßte mich vor meiner Tür ab. Sie blickte mich besorgt an, aber sie fragte nicht, wie es mir gehe, während sie ihre beringten Fingerchen schüttelte, sondern eröffnete mir, daß es Probleme gebe mit meinem Paß. Oder mit dem Visum. Sie mußte die Wirkung an meiner Miene abgelesen haben und machte ein noch besorgteres Gesicht. Zwei Offiziere hätten nach mir gesucht, aber ich sei ja nicht im Abteil gewesen.
    »Es gibt Ärger,
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