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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Gaspadin, man sucht Sie. Besser, Sie gehen ihnen entgegen, ich weiß auch nicht, sie sind nach hinten, weg von den Liegewagen. Gehen Sie ihnen entgegen, sonst kommen Sie nicht über die Grenze.«
    Ich dankte ihr. Schlüpfte zurück in mein Abteil, verschloß die Tür. Setzte mich. Vor meinen geschlossenen Augen war gleißendes Licht, also öffnete ich sie wieder.
    Dann sah ich ihn.
    Er stand neben mir am Fenster. Sah in die Nacht hinaus. Die Entzündung war noch immer nicht besser geworden, er stand gebeugt. Beide sahen wir in die Nacht hinaus. In die Nacht des stehenden Zuges.
    Es war still. Nur hin und wieder drang ein Laut von einem besoffenen Gröler zu uns herüber.
    »Großpapa«, sagte ich, »ich habe Angst.«
    »Ja, Kleiner, das verstehe ich.«
    »Sie suchen schon nach mir.«
    »Davon kannst du ausgehen.«
    Der Kopfschmerz zwang mir die Augen zu.
    »Wo warst du die ganze Zeit?«
    »Wo warst du denn?«
    »Bei deinen Töchtern.«
    »Bei meinen Töchtern, oho!«
    »Bist du böse mit mir?«
    »Sollte ich es sein?«
    »Ich glaube, ich habe eine schlechte Partie gespielt.«
    »Wir machen immer ein paar falsche Züge.«
    »Es waren nicht nur ein paar falsche Züge. Ich hab das ganze Spiel verpatzt.«
    »Das stimmt. Du hast gespielt wie ein Feigling. Du hast die ganze Zeit gedacht, du müßtest diese Gefühle vor der Welt verstecken. Gar nichts mußtest du. Scheiß drauf, daß es deine Tanten waren!«
    Ich hörte Schritte, die sich schnell meinem Abteil näherten. Jeder Tritt ein Hammerschlag auf meinen Schädel. Im Moment, in dem ich erwartete, daß die Tür aufginge, entfernten sie sich wieder. Ich hörte ein leises Lachen. Von einem jungen Mädchen.
    »Das alles wäre nicht passiert, wenn du dein Leben in die Hand genommen hättest, wenn du einmal zu dir gestanden hättest. Aber du bist schon immer vor allem abgehauen. Das war eine richtig miese Eröffnung, Kleiner.«
    »Du bist nicht zufrieden mit mir, Großpapa?«
    »Scheiß auf meine Zufriedenheit!«
    In der Ferne knallte ein Feuerwerkskörper.
    »Großpapa?«
    »Ja?«
    »Wie war das eigentlich mit dir und der Tscheka?«
    »Sonst hast du keine Probleme?«
    »Es ist mir wichtig.«
    »Hast du einmal drangedacht, dir einen anderen Namen zu verdienen? Krasnyj Wasilij, der Rote Wasilij. Wie klingt das für dich?«
    »Russisch.«
    »Und Russisch ist nicht gut?«
    »Hast du an deinen Namen gedacht, als du die Leute verraten hast?«
    »Ich habe an die Sache gedacht. Wohin kämen wir, wenn wir uns unser Leben wegen ein paar dreckiger Spießbürger kaputtmachen lassen würden?! Das tun nur Dummköpfe.«
    »Wie ich?«
    Der Zug ruckte an, fuhr einige Meter zurück. Dann hielt er wieder.
    »Ich glaube nicht mehr daran, daß meine Geschichte gut ausgehen wird, Großpapa. Mit Alezjas Tod hätte ich leben können. Aber ich weiß nicht, ob ich damit leben kann, daß ich den Menschen getötet habe, den ich all die Jahre am meisten geliebt habe.«
    »Das ist alles?«
    »Das ist alles.«
    »Dann geh raus. Wenn du nichts mehr zu gewinnen hast: Geh raus, raus und lauf, Kleiner. Bevor sie noch weiter zurückfahren. Du hast nichts mehr zu verlieren. Und du kannst nichts besser als davonlaufen.«
    Meine Hand fuhr über die Blätter, die vor mir lagen. Ich hatte mitten im Satz aufgehört zu schreiben, die Aufzeichnungen noch nicht beendet.
    Wahrscheinlich hast du recht, Großpapa.
    Noch einen letzten Satz. Damit werde ich meine Aufzeichnungen beenden. Aufs oberste Blatt werde ich »Für Marya« schreiben. Ihre Adresse werde ich darauf schreiben. In diesem letzten Brief werde ich mich zu erkennen geben. Ganz. Keine Lehrmittelsammlung. Nur meine Geschichte.
    Dann werde ich meinen Stift beiseitelegen.
    Ich werde den Zug ohne mein Gepäck verlassen. Eine eiskalte morgendliche Brise wird vom Fluß aufgestiegen sein und mir um die Kehle greifen.
    Ich werde loslaufen, Großpapa, lange harte Schritte auf meinen Ballen. Ich werde laufen, auf den Fluß, auf das Licht zu.
    Vor mir die Lichter von Terespol.
    Hinter mir ein Ruf.
    »Stoj! – Stehenbleiben!«
    Da drüben ist Polen.
    Der rasende Zigeuner ist noch immer schnell.
    Dann noch ein Ruf.
    »Stoj!«
    Da drüben. Da ist Licht.
    Da drüben. Da, ins Licht.

Personenliste
    (Vor- und ggf. Vatersname, weißrussisch und russisch, Kosename)
    Wasil Mikalajewitsch ( oder Wasilij Nikalajewitsch, Wasja)
    Tatsiana Stafanauna ( oder Stepanawna, Tanja) – Wasils älteste Tante
    Alezja Stafanauna ( oder Stepanawna, Lesja) – Wasils mittlere Tante
    Marya
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