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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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für die Wohnung liegt im Keller. Mein Tantchen ist so vergeßlich! Sie wird gegen 20 Uhr weggehen. Um diese Zeit ist auf dem ganzen Weg von der Metro bis zu ihrem Haus auch nicht mehr eine Straße beleuchtet. Die Menschen werden vor ihren überlauten Fernsehern sitzen, Castingshows auf allen Kanälen, nur die blöde Töle aus dem vierten Stock, die ihr Herrchen am Ton der Auto-Zentralverriegelung erkennt, wird lautstark bellen, das ganze Haus zusammenbellen. So daß mich niemand hören wird. Das Austauschen des Pürierstabs: zwei Minuten,höchstens drei, je nachdem, ob mein Tantchen ihn von Hand gesäubert, in die Spülmaschine oder auf die Wandhalterung gesteckt haben wird. Das Überbrücken der Sicherung: zehn, fünfzehn Minuten. Aber Tantchen wird nicht vor vier Uhr morgens heimkommen. Und ich werde, kaum daß die Spielshows begonnen haben, wieder auf der Straße sein. Die einzigen, die mir begegnen, sind Studenten, die Flasche Bier in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, im Wohnheim dürfen sie nicht trinken, nicht rauchen, nicht randalieren. Ich werde zwei Flaschen Wodka im Magasin kaufen und das Restgeld auf der Theke liegen lassen. Befreiung, so habe ich beim ungarischen Dichter György Konrád gelesen, sei es, vom Mörder zum Geliebten zu werden. Aber das funktioniert nur in der Literatur.
    Nächster Morgen, 7:32 Uhr. Ein auf Vibration geschaltetes Handy tanzt wie verrückt auf einem Glastisch, der ganze Tisch vibriert. Niemand geht ran. Niemand scheint zuhause zu sein. Obwohl ich auf dem Sofa liege. Der Restalkohol läßt mich wie in einer Retorte eingesperrt atmen. Mein Leben in vitro. Ich bin nicht da, einfach nicht da. Das Handy macht eine kurze Pause, dann meldet es sich mit einem schweren Brummen nochmals. Ich weiß, was mich erwartet, würde ich zum Telefon greifen.
    Sie haben – eine – Nachricht auf Ihrer Mailbox.
    Erste Nachricht auf der Mailbox.
    Leck mich.
    7:34 Uhr. Der Sekundenzeiger der Uhr steht still. Leise summt die Gasleitung. Ich werde wieder einschlafen. Wenn ich mich ganz fest auf Großpapa konzentriere, werde ich wieder einschlafen.Ich arbeite an einem widerspenstigen Webstoff, und ich muß zurück, zurück zum Anfang, zu einem Anfang. Oder aber zum Ende. Zum ersten Ende, mit dem alles begonnen hat. Großpapa.

Kartoffelzucker
    Treppab, treppab, treppab.
    Unten sind sie damit beschäftigt, den massigen Körper anzuwuchten. Zu dritt. Rasou, der Fleischer, faßt unter den Schultern an. Vater und Onkel Janka greifen nach je einem Bein. Es riecht nach Aprikosenschnaps.
    »Jetzt!« heißt das Kommando, und alle heben an. Der Leib sackt in der Mitte zusammen, sie bekommen ihn nicht vom Kellerboden hoch. Die Träger straucheln, taumeln aufeinander zu, sechs pralle Fäuste, dreißig weiße Fingerkrallen. Stürzend reißt der Schwächste eine Naht entzwei, raaatsch, durch den Bund schiebt sich fleckige Unterwäsche. Es riecht nach Salmiak. Es riecht nach wilder Minze. Das Bein rutscht Vater aus der Hand, klatscht auf den Stein, etwas kracht und geht entzwei, ein Pantoffel schlurft über den Boden, Großpapa ist tot.
    Dieselben Bilder. Immer dieselben Bilder. Begleitet von einem monotonen Sirren. Aber es ist nicht das Motorengeräusch eines Filmprojektors, obwohl es derselbe Laut ist. Es ist die ostdeutsche Gefriertruhe, die sich Großmama vom Mund abgespart hat. Die im Kellerhintergrund steht. Dort, wo sie ein Stromkabel durch das Fenster gezogen haben.
    Immer dieselben Bilder, wenn ich die Augen schließe. Wenn ich die Augen schließe, ist Großpapa tot. Er ist die Kellertreppe hinabgestürzt. Er wollte zu seinem Schnapsversteck. Vater hat im Keller ein Geldversteck. Großpapa einSchnapsversteck. Aprikose, Pflaume, Wodka. Die leere Flasche Aprikosenschnaps, die er mit hinunternehmen wollte, liegt oben auf dem Treppenabsatz. Unzerbrochen. Großpapa liegt auch auf dem Treppenabsatz. Unten.
    Großpapa war krank. Leberzirrhose. Dazu Rückenmarkentzündung. Außerdem war er Epileptiker. Er wollte längst nicht mehr. Gemußt hat er auch nicht mehr. Mit seinen achtzig Jahren.
    Mit seinen achtzig Jahren liegt der Epileptiker vor der Kellertreppe. Sein Leiden: die Blutschmiere in seinem Bart.
    Alezja entdeckt ihn als erste, von oben. Sie ruft. Nach dem Vater. Dann ruft Vater. Alle laufen sie zusammen, Onkel Janka, der mit Vater schon am frühen Morgen einen neuen Schacher vorbereitet, Rasou, der auf ein Schwätzchen mit Großpapa gekommen ist, und ich. Alezja schicken sie weg, mit mir
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