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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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laß es nicht wiederkommen!« zu, ergaben sich den besten Schauern der Aprikose, ich mußte Großpapa aufhelfen, weil die Entzündung im Rücken ihn steif und immer steifer werden ließ, und schmatzend und lachend verdrückten wir die erste Wurst zusammen auf dem Nachhauseweg. Denn das, schwatzte Großpapa, sei der Sozialismus, der wahre Sozialismus, nicht der abgeschmackte, der Aftersozialismus, den sie von Stalin gelernt hätten: Nicht einsam trinken, gemeinsam trinken, nicht einsam essen, gemeinsam essen.
    Ich hatte ihn doch immer nur gefunden, wo sollte ich ihn jetzt suchen?
    Und, mit leisem letzten Zögern, beschließe ich, lieber gleich etwas von all der Sonne abzuarbeiten, die diesen Sommer noch vor mir liegt. Diesen Sommer ohne den Alten.
    Ich glaube nicht, daß meine Tantchen bemerken, daß ich nicht mehr bei ihnen bin. Außer Stanislau wird es auch in der Schule niemand bemerken. Nicht einmal die Lehrer.
    Ich sei kein bemerkenswerter Schüler, sagen sie, für meine vierzehn Jahre nicht besonders aufsässig, nicht besonders talentiert. Was mich zwar nicht vor dem Pionieralltag, wohl aber vor den Komsomolzen bewahrt hat, die keine Anstalten mehr machen, mich unter ihre Fahne zu ziehen.
    Und wäre ich nicht Stanislaus Freund, hätte auch keines der Mädchen aus der Schule je Notiz von mir genommen. So kennen sie mich als Liebesboten, stecken mir kleine, aus den Schulheften gerissene Zettel für ihn zu, aus denen ich, am Polentümpel sitzend, winzige Boote baue, um sie in die rauhe See ohne Wiederkehr zu schicken. Manchmal antworte ich für Stanislau. Ich bin geschickt im Antworten für andere, so geschickt, daß beide Seiten bis heute den Betrug nicht bemerkthaben. Stanislau wäre mir dankbar, wüßte er davon. Ich halte ihm den Rücken frei. Den Kopf. Die Seele. Die nach dem Tod seiner kleinen Schwester keinen Platz mehr für Mädchen hat.
    Vielleicht lerne ich jetzt verstehen. Vielleicht werde ich wie Stanislau. Schließe mich zu Hause ein, bette mich unter Bücher. Erhoffe, erwarte von ihnen etwas. Antworten. Und schicke keine Boote mehr auf den Tümpel, der jetzt, ich arbeite die letzten Bitten um Verabredung von gestern ab, erste kleine Wasserringe zeigt. Dann überfallartiger Regen. Ein Krieg zwischen Himmel und Erde. Wie im Himmel. So auf Erden. Regen beugt sich nieder über die Landschaft, gerade so, als wollte er von ihr kosten. Ich laufe, harte lange Schritte auf den Ballen, ich übe meinen Antritt. Ein guter Leichtathlet hat nie Trainingspause.
    Erst jetzt ist unser Haus zu einem Trauerhaus geworden, mit allem, was man sich ihm zugehörig denkt: Den Kindern ist es verboten, drinnen zu spielen, kein Wort, kein Laut, kein Tritt auf den Dielen. Nur die Großen poltern geschäftiger denn je durch den Korridor. Im Zimmer, in dem der Alte aufgebahrt liegt, ist es außerdem verboten zu sprechen. Sie haben ihn schweigend ausgezogen, ihn gewaschen und in seinen Sonntagsstaat gesteckt. Sie. Großmama, die zwischendurch der Kleinsten die Flasche gegeben, und Mutter, die hin und wieder verstohlen mit den Schultern gezuckt hat.
    Es ist uns verboten, schnell durch den Flur zu jagen und die Töpfe zu schlagen, wenn wir das Essen ankündigen. Das ist jetzt Kindersache. Beim Essen selbst kein Unterschied: Schweigen, wie immer. Nur daß Vater nicht zischt, wenn man trotzdem zu sprechen wagt. Das übernimmt jetzt Großmama. Vater schüttelt nur den Kopf. Womit hat er diese Blagen verdient?
    Wir Blagen stehlen uns heimlich ins Schlafzimmer der Großeltern, das uns ganz neu ist. Das gemeinsame Schlafzimmer,das kein Gemeinsam mehr kennt. Oder es noch nie gekannt hat. Außer zum Kindermachen. Der Raum ist in zwei exakt gleich große Sektoren geteilt, die man nur zu überschreiten wagte, wenn die eine Seite den Schnapsvorrat der anderen umbettete und die andere das Umgebettete wieder hervorsuchte, um es in der Kehle neu zu lagern. Um kein Spielverderber zu sein. Jedesmal mit dem gleichen Ernst bei der Sache. Schließlich hatte Großpapa die Regeln ja aufgestellt.
    Ansonsten sahen sie sich wenig, sprachen sie wenig miteinander. Großmama hatte Kaslou. Großpapa hatte mich.
    Und Alezja, die »Mittlere«. Mich zum Zuhören, sie, ihm dienstbar zu sein. Wenn er mal wieder mußte. Es falle ihm eben alles ein wenig schwer mit seinen achtzig Jahren. Mit dem steifen Rücken. Mit der großen runden Leber, die schuld war, daß er mußte, wenn er nicht wollte, und nicht konnte, wenn er mußte.
    Und mit seinem Leiden. Hatte Angst, er
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