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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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ein zerschlissener alter Mehlsack über dem Donaustrand lag.
    Großpapa hatte seinen alten Namen zurückerhalten und seine alte Biographie. War er nun also wieder der kleine István. Hatte sein kurzes revolutionäres Leben und seine jungenhafte Erinnerung. Das mußte genügen für lange Zeit.
    Ein Jahr später kam auch der Rote Sándor wieder. Ausgezehrt, müde bis ins Herz hinein. Er sprach nicht, oder nicht mehr viel. Er hatte nichts mehr zu lehren und auch nichts zu lernen. Die beiden säten, jäteten und ernteten. Sie brannten Laub. Und weil ihre Familien nach dem Tod der Väter beschlossen hatten, den Haushalt zusammenzuwerfen, nährten sich Großpapa, Sándor und ihre Mütter zunehmend von Sándors jüngerem Bruder János, der noch nie Interesse an der Sache der Knechte gezeigt hatte, vielmehr mit Hingabe, by heart, verschacherte, was er an Gutem und Gehaltvollem zwischen den Dörfern aufzustöbern pflegte.
    An einem klaren Februartag begann sein Leiden. Le grand mal. In Dresden kartätschte die SA Arbeiterführer nieder, und in Ungarn warf die Epilepsie Großpapa vom Kutschbock. Er blinzelte durch froststarrende Zweige in die Sonne, Hell und Dunkel kamen und gingen, und die weißen Baumkronen hieben wieder und wieder und wieder auf seinen Schädel ein, um sich seiner besten Erinnerungen zu bemächtigen. Auf demLandstraßenpflaster zerplatzten die roten Schaumbläschen. Lange wurde er nicht gefunden. Er hatte Glück, daß sein dummer Gaul diesen Tags allein zu seinem Hafer zurückfand und so die Familie alarmierte. Für sie, die größer geworden war – János’ Geschäfte waren mittlerweile so erfolgreich, daß er sich ein kleines Weib zugelegt hatte –, wurde der István zur Last, weil man ihn nicht mehr auf den Markt schicken konnte. Auch das mußte János nun selbst übernehmen. Großpapa versorgte das Feld, so gut es ging, aber es ging immer öfter nicht mehr.
    Einfacher war es, das Haus mitsamt dem kleinen Weib zu versorgen, denn bei János’ ununterbrochener Abwesenheit wollte und wollte sich kein Kind einstellen. Als es endlich doch soweit war, wußte niemand so recht, von wem es stammte, das Würmchen mit den drei dunklen Locken, aber als es, keine zwei Wochen alt, nach Phasen ununterbrochener Spasmen, abgelöst von leerer und letzter Apathie, an einem Hirnkrampf starb, schien auch das festzustehen. Es ging eben alles immer öfter nicht mehr.
    Wenigstens rettete ihn sein Leiden vor der ins Haus stehenden Einberufung. Die Nächte von Reichsverweser Miklós Horthy wurden länger und schwärzer, zu diesen Stunden gedachte er Ungarns Pein, und wie übel er das ihm Anvertraute verweste; und da die Alliierten lustig auf das krumme kleine Ländchen zwischen Theiß und Drau pfiffen, versuchte Ritter Miklós, sich an die andere Seite ranzuwanzen. Wenig später tobte um Großpapa der Zweite Weltkrieg. Und nur um ein weniges leiser tobte János. Sein kleines Weib trug erneut einen Stammhalter unterm Herzen, diesmal ohne Mitwirkung von Großpapa, aber leider auch wieder ohne seine. Obwohl Sándor der Übeltäter war, entfloh Großpapa, des Streits überdrüssig, in die Hauptstadt. Dort sprach man immer offener davon, daßes mit den Deutschen zu Ende gehe. Und er, der seine Jahre in Gleichgültigkeit gegen Weiße wie Braune hingebracht hatte, schmeckte in der Stadt seiner jungenhaften Erinnerungen noch einmal den Frühling. Er wollte tun, was ein Epileptiker für den Umbruch tun konnte. Doch was er sah, das waren nicht die marschierenden roten Brigaden, was er sah, das waren die deutschen Maschinengewehre auf den Donaubrücken, und die deutschen Panzer auf der Burg, und er sah, wie ganz Ungarn sich, ohne zu zögern, in den Matsch warf.
    Dann kamen die Pfeilkreuzler, Szálasis dreckiges Dutzend, die Söldlinge der Nazis. Sie begannen damit, die Juden zusammenzutreiben, und alles Volk, das auf der Straße war. Großpapa war auf der Straße.
    Es waren zwei, ein alter und ein junger, noch viel zu klein für die Uniform, die er wie einen Mantel trug. Sie waren drauf und dran, ihn mit den anderen in die Donau zu schießen. In einem Hinterhof in Ferencváros rissen sie ihm die Hose herunter und sahen nach, ob da eine anständige Vorhaut war. Überzeugt hat sie der Anblick nicht. Der Junge brachte seine Mauser in Anschlag.
    »Trägt aber keinen Stern«, sagte der alte Pfeilkreuzler.
    »Eben, vorschriftswidrig, muß weg«, knurrte der Junge, während er nervös am Abzug fummelte.
    »Habt ihr denn so viel Munition?«
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