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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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fragte Großpapa den Alten, während er die drei letzten amerikanischen Zigaretten herzeigte, die er aus János’ Vorräten gemaust hatte.
    »Wär ich ein Jud’, hätt ich sicher keinen Stern getragen, aber wär ich dann auf die Gasse, um euch entgegenzugehen?«
    Und um sein Selbstbewußtsein zu zeigen, hat der Großpapa zu singen begonnen: »Nyisd ki, babám, az ajtót – Öffne, Liebste, mir die Tür«, hat ein paar Tanzschritte angedeutet, und der Alte hat lachend, mit spöttischem Seitenblick auf denJungen, mitgesungen, »Nein, das geht nicht, denn der Nachbar lugt herfür«, hat sich zwei Zigaretten hinter die Ohren gesteckt und die dritte angezündet, hat salutiert, dem Jungen von hinten gegen die Mütze geschlagen, und ihm den Weg zur Donau gewiesen. Und das hat Großpapa den Kopf gerettet. Das und die Tatsache, daß die Nazis nach einem solchen Tag keine Patronen mehr hatten. Und daß sein Leiden einmal, im rechten Augenblick, ausgeblieben war.
    Dann schickten auch die Ungarn ihre Juden nach Auschwitz und zum Frontdienst ohne Waffe, und die Deutschen sprengten das Straßenpflaster von Budapest. Aber Großpapa war längst auf dem Weg nach Osten, wo die Pfeilkreuzler Dorf um Dorf an die Sowjets verloren.
    Nur um Lebewohl zu sagen kehrte er zurück, von diesem Ungarn wollte er nichts mehr wissen, er wollte in die Sowjetunion, und er verfluchte sich selbst, weil er so lange damit gezögert hatte. Nur um Lebewohl zu sagen kehrte er zurück zu den Häusern, von denen nicht viel übriggeblieben war, nachdem deutsche Panzergranaten an ihren Fassaden gerüttelt hatten, und er fand keine der drei Frauen wieder. Nur die Brüder lebten, und mit ihnen Sándors Tochter Katalin. Katika. Großmama.
    Als er den Heimkehrer fest in die Arme nahm, fand János, nach Tagen des Zerfließens in Reue und Selbstmitleid, in dem Maße wieder zu sich, in dem Großpapa zu seinem Leiden zurückfand. Allein zum Schachern fand János nichts, und das machte ihn wirklich unglücklich. Er erklärte, wenn der Russe zum Ungarn komme, sei Ungarn verloren, deshalb sei es besser, wenn der Ungar zum Russen gehe, und Sándor, die plärrende Katika auf dem Arm, schlug vor, noch rasch ein Schaf zu schlachten, es zu zerteilen, zu pökeln, und die Wurst eine Nacht über den Rauch zu hängen. Großpapa zuckte mitden Schultern, was soviel heißen sollte wie: In einer Nacht, mit etwas Tabak, Maiskolben und Selbstgebranntem im Gepäck, da kann man weit kommen auf den Viehzügen, die planlos in alle Richtungen rollen. Aber auf die Schafwurst wollte auch er nicht verzichten, und so mußte die Sowjetunion noch ein wenig warten.
    Bis Eger aßen sie die Wurst und sahen Ungarndeutsche, die ihre Wehrmachtsuniformen im Wald vergruben. In Nyiregyháza tauschte János Mais gegen Zwiebelbrot. In Kisvárda war der Selbstgebrannte dran. Bei Záhony mußten sie auch an die Zigaretten gehen. In Ungvár, das Großpapa Uzhgarad nannte, bekam Katika Durchfall von einer Erbsensuppe, die János bei einem Bauern erbettelt hatte. Und als die vier, halb verhungert und halb verblödet von den bitteren Karpatenbeeren, endlich vor Barislaw standen, war es Mündungsfeuer der Roten Armee, das Sándor tödlich verwundete.
    Ein Schreiben seines revolutionären Waffenbruders Imre Nagy, das Großpapa immer bei sich trug, bestätigte, daß er ein wertvoller Kadermann war. Wertvolle Kadermänner siedelte Stalin in Gebieten an, die vor dem Krieg zu Polen gehörten, mit den Ihren sollten sie sich um die Sowjetisierung kümmern. So kam meine Familie in die Nähe von Hrodna. Belarus. Und kam doch nie hier an.
    Und aus István wurde Stepan oder Stafan, und aus János wurde Janka, und aus Katika Katja. Und dann haben sie in Sándors Grabtafel den Namen Sascha schnitzen lassen. Krasnyj Sascha, der Rote Sascha.
    Janka heiratete zum zweiten Mal, seine Katja bekam eine Stiefmutter, die halb taub und halb scheel war, so bannte er wenigstens die Gefahr, daß er wieder betrogen würde. Großpapa zog von Dorf zu Dorf und verdingte sich als Ausbesserer. Esgab jede Menge auszubessern, besonders nach der alljährlich wiederkehrenden Flut. Im ganzen Land fehlte es an Männern. Keiner packte besser zu als der Großpapa, auch wenn er manchmal vor lauter Übereifer in fremde Taschen und unter fremde Röcke packte.
    Ein neues Jahr, und der Hauch aus Moskau kam als Sturm in Budapest an. Ungarns politische Führer, die Rákosis und Gerős und Hegedüs, kamen und gingen. Auch Imre Nagy ging, aber er ging nur, um
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