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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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»Formalitäten«. Das Radio wird angestellt. Die Stimme sagt beschwingt, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe habe mit der »Europäischen Gemeinschaft« eine Erklärung über die Aufnahme offizieller Beziehungen unterzeichnet. Und schildert dann in elegischem Ton, wie unsere Nationalmannschaft nach einem kämpferischen Spiel das Finale bei der Fußballeuropameisterschaft in Deutschland verloren habe. Vater schüttelt den Kopf. Auch das noch. Weil das Radio unablässig brummt und knackst, schaltet er ab. Obwohl gleich seine Lieblingssendung kommt. Aber Respekt für den Alten muß schließlich sein. Der Alte. Der ihn unzählige Male geschlagen hat. Ins Gesicht. Mit dem Handrücken. Jefim Abramawitsch, mein Lauftrainer, meint, daß es für die Juden nichts Schlimmeres gebe, als mit dem Handrücken geschlagen zu werden. So schlägt der Herr den Knecht. Er schlägt ihn und treibt ihn vor sich her, treibt ihn von sich fort. Den ungehorsamen, den Kainssohn.
    Während der Totenfeier ist Onkel Janka vollauf damit beschäftigt, den bereits austretenden Leichensaft aus Großpapas festgezurrten Mundwinkeln zu wischen. Es ist stickig, schwül. Nicht einmal die Birken vor den Fenstern schütteln ihr Laub. Es riecht nach Erbsen. Nach frisch gepflückten Erbsen und dem Saft unter der Hülse.
    Tatsiana, Alezja und ich, wir bilden die erste Reihe hinter dem Sarg. In unserem Rücken geht die Großmama, aufrecht und starr, mit Marya im Arm, und Janka, Großmamas Onkel, der unablässig schnauft, jammert, sich die Nase putzt, über die Augen und das Haar mit seinem Feiertagstaschentuch wischt. Dahinter, wir können sie nurmehr erahnen, Vater, Mutter, auch Rasou, der sich, seiner Rauchwürste wegen, gern vor der Beerdigung gedrückt hätte.
    Tatsiana, Alezja und ich. Wir ziehen uns wechselseitig zum Grab hin, wir folgen dem Sarg, in den man, der fortgeschrittenen Leberzirrhose wegen, zusätzliche Nägel schlagen mußte, um zu verhindern, daß die Gase im wasserprallen Körper die schwache Kiste sprengen. Aber es nützt nichts, rein gar nichts. Bei der Grablegung ächzt das Holz unter der Zweieinhalbzentnerlast, die Träger, auf sieben aufgestockt, straucheln, dem ersten rutscht prompt das Seil aus den Händen, rahursch, die Bretter sind längst gesprungen, als Großpapa unten aufschlägt.

Er war der Mann
    Großpapa. Er war der Mann. Der Mann des Städtchens.
    Fünfzehn Jahre war meine Großmama, als er sie zum ersten Mal schwängerte. Großmama, die Tochter seines besten Freundes Sándor. Die fünfziger Jahre gingen ihrem Ende entgegen. Chruschtschow, der Allesfresser, wollte sich Westberlin einverleiben, und in Budapest hängten sie Imre Nagy, Großpapas prominentesten Fürsprecher, als er kurz vor Ende des großen vaterländischen Kriegs erstmals sowjetischen Boden betrat. Als Vater zur Welt kam, trug der Alte noch immer Trauer um »seinen Imre« und traute dem Radiosprecher nicht, der verkündete, Nagy sei ein vom Westen gekaufter Verräter. Großpapa kannte Verräter, der war keiner! Und so polterte er: Das Kind könne selbstverständlich keinen anderen Namen als Imre tragen. Doch Großmama, mit der ganzen Kraft ihrer Jugend und dem Stolz auf ihre neue, ihre belarussische Heimat, rollte nur mit den Augen und setzte Mikola durch. Und der Alte, der jede Form von Nationalismus und Separatismus ebenso ablehnte wie einen kernigen Streit mit der Wöchnerin, schrieb den Namen in seinem Kopf um zu Nikalaj. Wenigstens das.
    Mein Vater setzte alles daran, Großpapas Aufmerksamkeit zu erregen, aber er verstand einfach nicht, daß er dafür kein verklemmter Duckmäuser, der schon im Alter von vierzehn Jahren ein Depot mit Angespartem im Keller anlegte, sondern ein großer Sozialist hätte werden und sich den Namen »Roter Nikalaj« verdienen müssen.
    Nächst dem Geld galt Vaters ganze Aufmerksamkeit den früh entwickelten Brüsten seiner Nachbarin Sweta. In unserer Familie ist Kindersegen immer eine Sache der Kinder selbst gewesen. Mein Vater war sechzehn, Mutter auch, als sie dem Alten in vorauseilendem Gehorsam einen Stammhalter, mich, schenkten; aber auch der Alte pflanzte sich noch zweimal fort, in Verachtung der Schwäche seines Leibes, auch ungeachtet der spöttischen Bemerkungen allenthalben, gönnte seiner Frau zwölf milde Winter, ließ sie mit fünfundvierzig noch einmal diesen einzigartigen Schmerz verspüren, um anschließend, gleichsam an ihrer statt, im Wochenbett zu sterben. Und was in anderen Ländern vielleicht Einzug in
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