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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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versuchen sie es auch, aber vergeblich. Ich bin vierzehn Jahre alt. Ein Mann. Ich gehe mit ihnen die Treppe hinab und sehe den blutigen Schaum. Großpapas Gesicht sehe ich nicht. Er liegt darauf. Motorensirren. Es riecht nach Salmiak. Nach wilder Minze. Nach Eisen.
    Ich weiß: Großpapa muß gewaschen werden. Dieselben Bilder, derselbe Film.
    Wenn sie ihn die Stiegen hinaufgeschafft und auf sein Bett gezerrt haben, wird Onkel Janka seine Jacke durchstöbern, er wird einen Flachmann darin finden, sich wundern, was der Alte wohl im Keller suchte, wenn er noch ein Fläschchen bei sich hatte, er wird es herausbefördern und sagen:
    »Das letzte Hemd hat keine Taschen!«
    Dann wird er es aufschrauben, einen Schluck tun, es in die Runde reichen, das Gesicht nachschmeckend verziehen, und sich selbst antworten:
    »Na, was soll’s?!«Es wird nach Aprikosenschnaps riechen. Vater wird mich zur Großmama schicken.
    Die arbeitet schon wieder. Keine zwei Wochen ist es her, daß sie entbunden hat. Aber Marya, die Kleine, ist Großmamas viertes Kind, das sei nur eine Frage der Routine. Milch hat sie ohnehin keine mehr. Sie kann längst wieder arbeiten. Nur die angehende Nierentuberkulose macht ihr zu schaffen.
    Großmama arbeitet im Gemischtwarenladen. Ich kann Kaslou, den Leiter, nicht ausstehen, deshalb besuche ich sie selten, selbst wenn es dann Süßigkeiten gäbe. Tatsiana und Alezja sind ständig da. Ich habe sie darauf eingeschworen, die abgestaubte Besucherschokolade mit mir zu teilen, was besonders Alezja schwer fällt. Dabei muß sie auf ihre Pickel achten. Fett wird sie allmählich auch, und die Jungs aus meiner Klasse fangen an, sie und mich, ihren Neffen, zu hänseln. Sie ist die einzige Zwölfjährige, die noch keinen Freund hat. Trotzdem kann es nicht genug Schokolade sein, sie beginnt mit einem Stück, ißt sofort einen Riegel hinterher und anschließend verputzt sie die ganze Tafel. Es ist mehr als essen. Sie mästet sich. Sie stopft sich, verspundet sich. Seit sie entdeckt hat, daß sie tagelang bluten kann. Oder vielleicht ist es auch wegen Großpapa.
    Bei meinem Eintritt in den Laden weiß Großmama, daß etwas geschehen sein muß. Mit ihren fünfundvierzig Jahren ist sie eine alte Frau für uns. Und wie eine alte Frau lugt sie, mit schiefgehaltenem Kopf, über die Theke. Es ist Alezja, die auf sie zutritt und laut verkündet:
    »Mamuschka, der Papa ist gestürzt.«
    Und mit unverhohlener Wehleidigkeit in der Stimme sagt sie noch:
    »Kann ich Kartoffelzucker haben?«
    Wortlos bindet sich Großmama die Schürze auf, blickt auf mich, ich sehe weg. Wortlos wendet sie sich Kaslou zu, der denAuftritt von Anfang an hinter seinen akkurat geschichteten Stapeln Konservenbüchsen verfolgt hat. Er nickt. Beiläufig. Sie schiebt uns der Tür entgegen, aber noch bevor wir aus dem Laden sind, hebt er Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand und ruft:
    »Zwei Stunden! Zwei!«
    Als ob er mit seinen fünfzehn Kundinnen am Tag nicht imstande wäre, den Tante-Natascha-Laden allein zu schmeißen.
    Draußen steht die Sonne schon hoch. Wir müßten längst in der Schule sein. Großmama erinnert uns daran, aber zu ihrem Ärger erklären wir uns für schulunfähig. Eine halbe Stunde gesteht sie uns zu. Die Entschuldigung für eine halbe Stunde. Weniger Zeit als sie selbst hat.
    Jetzt, da Tatsiana vorantrabt Richtung Schule, Alezja sich einen letzten Rest Kartoffelzucker in den Ranzen steckt, für den Rückweg, beginnt etwas Besitz von mir zu ergreifen. Großpapa sagte immer: »Kommst du über den Hund, dann kommst du auch über den Schwanz.« Ich habe nie verstanden, was das heißt, und das lag nicht daran, daß er es auf Ungarisch gesagt hat. Ich habe vielmehr nie verstanden, was er damit gemeint haben könnte. Er wahrscheinlich auch nicht. Aber darum geht es nicht, darum ging es nie. Es geht um Großpapa. Den ich von jetzt an suchen müßte. Den ich doch immer nur gefunden hatte. Den ich nie wieder aus dem Kellerversteck von Rasou nach Hause holen würde und dafür Kalbasa zugesteckt bekäme von der Rasowa, die mich als »Mein Engelchen« begrüßte, weil durch mich die trinkerische Zusammenkunft rasch, heiter, und vor allem ohne ihr Zutun aufzulösen war.
    »Geh deine Wurst holen!« sagte die Großmama, und Rasou, der Fleischer, sagte:
    »Der kleine Polizeimann! Gell, du führst uns nicht beide ab? In der Ausnüchterungszelle ist’s so hundstrocken!«Dann schenkten sie einander den Letzten ein, sprachen sich ein »Trink, und
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