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Nixenjagd

Nixenjagd

Titel: Nixenjagd
Autoren: Susanne Mischke
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    Die Menschen auf dem Bahnsteig waren schwer bepackt und die Gesichter zeigten jene satte Erschöpfung, die sich nach einem gelungenen Raubzug breitmacht. Samstag – Familien-Einkaufstag. Franziskas Ausbeute bestand lediglich aus zwei Büchern, doch damit war sie restlos zufrieden. Sie hatte nach einem Sommerkleid und leichten Schuhen Ausschau halten wollen, aber nichts Passendes gefunden. Das mochte daran liegen, dass sie zwei Stunden im Antiquariat verbracht hatte. Ihre Mutter würde sagen: vertrödelt. Danach hatte sie wenig Lust verspürt, nach Klamotten zu suchen. Es war ihr grundsätzlich lästig, mit der Auswahl und Anprobe von Kleidung Zeit zu vergeuden. Zeit, die man auch sinnvoll verbringen konnte. Zum Beispiel lesend. Die vertraute Frauenstimme kündigte das Einfahren des Zuges an. Türen glitten auf, die Menschen enterten die Wagen, als handele es sich um die Arche Noah und nicht um die S-Bahn. Mit einem Sitzplatz würde es wohl nichts werden, befürchtete Franziska, die ohne ihr Zutun vorangeschoben wurde. Musste sie halt im Stehen lesen. »Hier ist noch Platz«, hörte sie plötzlich eine Stimme. Ein Korb wurde vom Sitz genommen, eine kräftige, langfingrige Hand wies auf die frei gewordene Fläche. Lieber Himmel, durchfuhr es Franziska. Sollte sie wirklich...? Jemand rempelte gegen ihren Rücken, sie verlor das Gleichgewicht und plumpste auf den freien Sitz. »Hi«, sagte Paul.
    »Hi«, sagte Franziska. Eine Dicke, beladen mit zwei prall gefüllten Plastiktüten, sank stöhnend neben sie. Franziska registrierte es kaum. Paul. Vor vier Wochen war er neu in ihre Klasse gekommen, in die 10 b. Seitdem geisterte er durch ihre Tagträume. Nicht nur, weil er ohne jeden Zweifel gut aussah: braune Locken, blaue Augen, athletische Figur. Das allein war es nicht. Auch Oliver sah gut aus, aber bei seinem Anblick bekam sie kein Herzklopfen. Paul dagegen ...Er wirkte erwachsener als die anderen Jungs in seinem Alter, und wenn sie im Unterricht zu ihm hinsah – was oft geschah, denn er saß schräg vor ihr –, dann bemerkte sie zuweilen etwas Melancholisches in seinen Zügen, eine leise, verborgene Traurigkeit, die etwas in ihrem Inneren berührte. Doch Franziska war nicht die Einzige, die sich zu Paul hingezogen fühlte. Ihre Freundin Katrin schleuderte jedes Mal reflexartig ihr Blondhaar zurück und versandte schmachtende Blicke, wenn Paul in ihre Nähe kam, und Silke, die mit Katrin um den Titel attraktivstes Mädchen des Jahrgangs konkurrierte, drückte automatisch ihr Kreuz durch und reckte ihre C-Körbchen in die Landschaft. Aber sämtliche Verrenkungen dieser Art waren bisher erfolglos geblieben. »Vielleicht ist er schwul«, hatte Katrin neulich verärgert vermutet. Sie war nicht gewohnt, ignoriert zu werden, und anders konnte man das freundlich distanzierte Verhalten Pauls kaum nennen. Wenn Katrin jetzt an meiner Stelle säße, dachte Franziska, würde sie ihre Chance nutzen: eine Unterhaltung, etwas Small Talk, vielleicht sogar eine Verabredung. Franziska krallte nur die Hände um ihren kleinen Rucksack und heftete den Blick auf den Korb mit Lebensmitteln, den Paul jetzt auf dem Schoß hat te. Die Bahn fuhr los und mit jedem Meter empfand Franziska das Schweigen unerträglicher. Wenn er doch was sagen würde. Schließlich bemerkte sie: »Du warst einkaufen.« Sehr originell, Franziska, wirklich super! »Ich will was kochen«, erklärte Paul. »Du kochst?« Hat er doch gerade gesagt. Franziska, du redest nur wirres Zeug. »Das finde ich toll«, sagte sie. »Mein Vater kocht auch ab und zu am Sonntag. Aber er hinterlässt immer eine Riesensauerei in der Küche.« Paul antwortete nicht und sah aus dem Fenster. Franziska fiel ein, dass jemand erzählt hatte, Pauls Vater sei vor zwei Jahren gestorben. Hätte ich doch nur den Mund gehalten. Die Dicke neben ihr tat einen tiefen Seufzer. Der Junge neben Paul hatte die Hörer seines MP3-Players eingestöpselt und bewegte den Kopf wie ein pickendes Huhn. Franziska verwünschte die ganze Bande. Sie wäre jetzt gern mit Paul allein gewesen. Um beschäftigt zu wirken, nahm sie eines ihrer Bücher heraus. Sie hatte ja ohnehin lesen wollen. Allerdings würde sie sich in seiner Gegenwart wohl kaum konzentrieren können. »Was liest du da?« Franziska sah auf, ihr Blick begegnete seinem. Ein kleiner Elektroschock durchfuhr ihren Körper. Wortlos hob sie das Buch an. Er lächelte. Franziska war sicher, dass sie ihn bis jetzt noch nie hatte lächeln sehen. Denn daran
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