Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
Vom Netzwerk:
komme ohne fremde Hilfe nicht mehr zu sich, die Zunge zwischen den Zähnen, die Stirn blutig gekratzt, dort an der Wand in dem engen Badezimmer. Wenn er mußte, folgte sie ihm stumm.
    Weshalb Alezja, ich könne ihm doch helfen. Aber nein. Denn ich bin der Junge.
    »Das ist nichts für Jungen«, sagt Großpapa und schenkt sich noch einen ein, bevor er sich auf den Weg macht.
    » Das ist was für Jungen, Kleiner«, lacht er und läßt mich an der Flasche riechen. Heute nur riechen. Er war schon großzügiger. Aprikosenschnaps. Überdeckt nur wenig den Salmiakgeruch, den er wieder ausströmt. Deshalb wird es jetzt Zeit, Großpapa streicht Alezja über den Scheitel und läßt sich von uns aufhelfen, bis er mich augenzwinkernd zurückwinkt: Du weißt ja, nichts für Jungen.
    Heimlich bin ich doch mitgegangen. Weil es so eng ist in dem Raum, den man vor einigen Jahren einfach nur mit einer Zwischenwand von der Küche abgetrennt hat, können sie die Tür nicht schließen. Alezja öffnet ihm die Hose, zerrt zugleich an ihr und an der verfilzten, feuchten Unterhose, zerrt sie ihm in die Kniekehlen, bis er »Halt!« ruft, denn er möchte noch Stoff spüren zwischen Oberschenkel und Toilettensitz, sonst wird’s gar zu arg im Winter. Dann stützt er sich mit der Linken gegen die Wand, seine Rechte sucht die Tochter, die, wenn er sich jetzt nach hinten sinken läßt, verzweifelt um Gleichgewicht bemüht den Arm nach vorn reißt, bis Großpapa auf den Sitz aufplumpst, ihr zunickt, »Geht schon« zischt, und an den ineinander zerknüllten Hosen zieht. Dann höre ich ihn laut stöhnen, leise fluchen. Eine Begleitmelodie. Immer im selben Tonfall. Es dauert, dauert lange, bis er Alezja wieder herbeizitiert. Sie befördert ihn unter Zuhilfenahme ihres Körpergewichts in den Stand, wischt ihm kurz zwischen die Beine und dreht ihn um, daß er vor dem Toilettenbecken steht. Großpapa brummelt. Alezja dürfe jetzt abschütteln. Und sie dürfe da auch ruhig mal dran ziehen, ja, feste ziehen, nach hinten, feste! Und wieder nach vorn, feste! Schließlich müsse sie sich daran gewöhnen. Als Mädchen.
    Plötzlich weiß ich, weshalb Tatsiana, die doch die größere und kräftigere ist, nicht mehr mitgeht. Und ich bin ja der Junge. Ich muß mich nicht daran gewöhnen.
    Großpapa, so sagte mir Rasou Jahre später in wodkaseliger Vertrautheit, habe eben schon immer … und nichts für ungut, das dürfe ja auch sein, das habe ja fast jeder Mann, gell, das dürfe man nicht vergessen, und er wolle damit ja auch nicht schlecht von ihm sprechen, der Großpapa sei ein feiner Kerl gewesen, ein wirklich ganz prima Kerl, vielleicht der besteKerl im Städtchen, gell … eine Vorliebe habe er halt gehabt für »kleine Mädchen«. Sonst hätte er sich ja auch nie mit der Großmama eingelassen.
    »Mußt mal rechnen, Wasja, Junge«, sagte er mit wichtigtuerischem Stirnrunzeln, »mußt mal rechnen, wie alt deine Großmutter war, als dein Vater zur Welt gekommen ist. Fünf-zehn war sie, gerade mal fünfzehn geworden.«
    Aber so sei das eben, und nichts für ungut, gell, sa sdarouje, und daß es nicht wiederkomme!
    Großpapas Totenzimmer. Sie haben große Kerzen zu seinen Füßen angesteckt, am Kopfende steht der wurmstichige alte Kellertisch, Kreuz, Weihwasserschale, Öllampe, in der Luft ein klebriger Rauch, »Kackruß, katholischer«, hat er dazu immer gesagt, aufbegehrt hätte er gegen diese Aufbahrung.
    »Ich weiß, mein Gott lebt«, sagte Großmama, wenn sie die Wortwechsel mit ihm beenden wollte, und: »Na sicher«, antwortete der Alte, »fragt sich nur, wovon.«
    Großpapas Totenzimmer. Zwei Rubelmünzen liegen dort, wo seine Augen waren. Wir Blagen stehlen uns heimlich in den Raum, der uns ganz neu ist. Alezja tastet sachte an den Rändern des Lakens, dann rücken ihre Finger dem Körper immer näher. Schließlich ziehen sie um ihn eine Spur in das Tuch. Berühren will sie ihn aber nicht mehr. Denn es ist nicht mehr ihr Papa, das haben ihr die Großen gesagt. Aber weshalb nicht, das haben sie ihr nicht gesagt. Sie sieht fragend zu mir auf. Ich sage: »Das letzte Hemd hat keine Taschen!«, dann: »Na, was soll’s?!« und kneife sie dabei in den Arm, ganz fest ins Fleisch. Einen Moment schwankt sie, soll sie weinen oder lachen, und dann toben wir drei doch durch das Zimmer, allen Verboten zum Trotz, so wild, daß das Öllämpchen auf dem Tisch erzittert und fast alle Kerzen ausgehen.
    Bis die Großen wieder da sind von ihren Gängen, ihren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher