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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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die Zeitungen gehalten hätte, hielt bei uns nicht einmal recht Einzug in die Köpfe. Geschweige denn in die Herzen.
    Tatsiana war es, die irgendwann nach dem Tod des Alten damit begann, Stammbäume zu zeichnen. Angeblich für Marya. Ich glaube aber, in Wahrheit fürchtete sie einfach, die Übersicht zu verlieren.
    Hier war sie also, unsere Familie:

    Ich bin, was verdächtig nach einem toten Trieb links unten aussieht. Und er war es, der stets im Mittelpunkt stand: Großpapa István.
    Er war der Mann. Der Mann des Städtchens, geboren am Tag und zur Stunde, als der russische Schachgroßmeister Tschigorin in Lublin starb. Von Lublin bis Budapest waren es 600 Kilometer, zu weit, um Tschigorins noch ziemlich munteren Geist in ihm zu reinkarnieren. Und so verpatzte Großpapa in unseren samstäglichen Schachpartien zähneknirschend eine Eröffnung nach der anderen.
    Die Budapester Vorstadt, in der Großpapa aufwuchs, war damals so aufregend wie heute, nur daß sie weniger nach Abgasen stank. Meine Urgroßeltern waren Kleinbauern, wie alle; ein Klepper, mehr tot als lebendig, zwei Kühe, fünf Schafe, allabendlich Laub brennen. Rauch stieg, der Westwind verwirbelte ihn, und er zog ins Haus, bis in die frühen Nachtstunden. In der Dämmerung brannte es sich am schönsten, Großpapa und sein Vater hatten das Laub den Tag über im Garten gerecht. Großpapa liebte ihn über alles, den Moment, als die Flammen flügge wurden.
    Als er alt genug war, schickte ihn meine Urgroßmutter zum Roten Sándor, dem Sohn ihrer Jugendliebe. Urgroßvater tobte, einen Monat lang, mehr aus Eifersucht denn aus politischen Bedenken, dann wurde er mitsamt Sándors Vater und den übrigen Reservisten der KuK-Armee eingezogen.
    Der Rote Sándor gab Großpapa Unterricht in Sachen Herren und Knechte. Er lehrte ihn Lesen, mehr als die öffentliche Schule, weil Großpapa sie nur in den Monaten besuchte, wenn es nichts zu säen, zu jäten, ernten oder brennen gab. Großpapa las im Manifest, sollte die ersten zwanzig Seiten auswendiglernen, was er wenig widerstrebend tat, weil sein Kaff, trotz des großen Krieges, nicht aufregender geworden war. Sándorlehrte ihn, daß die Engländer etwas nicht inwendig, schon gar nicht auswendig lernten, sondern »by heart«, und daß der Sozialismus eine Herzensangelegenheit oder nichts sei. Und schließlich lehrte Sándor ihn, daß das Gemetzel, das gerade bei Marmaros-Sziget zwischen Österreichern und Russen tobte, und das auch ihre Väter nicht überleben sollten, nur eine Wiederholung dessen war, was die Herren 1849 in Budapest, 1871 in Paris und 1905 in Petersburg angerichtet hatten, als sie auf ihre Knechte schießen ließen.
    Nach den recht abgeschmackten KuK-Kondolenzbriefen brannte man seltener Laub. Aber immer öfter und lauter hörte man von dem kranken alten Kaiser in Wien sprechen, und von der großen Sache, die ausgerechnet bei den Russen schon Wirklichkeit geworden war. Und Sándor lehrte Großpapa Russisch. Oder das, was er dafür hielt.
    Dann kamen der Oktober 1918 und die Budapester Arbeiter- und Soldatenräte. Aus seinem Moskauer Exil war Béla Kun zurückgekehrt, um die sozialistische Republik auszurufen, und der brauchte jeden Arm. Sándor zögerte keine Sekunde, spannte das Pferd vor den Wagen, und fuhr mit Großpapa, zwei weiteren Freiwilligen und einem nach Apfelessig riechenden Gewehr, das sie einen Tag lang geputzt hatten, und für das sie keine Munition besaßen, in die Stadt. Während sich die einen eine neue Ordnung und eine neue Verwaltung gaben, gaben sich andere einfach nur einen neuen Namen und eine neue Biographie. Großpapa wurde der Rote István. Man behandelte ihn wie einen Erwachsenen, einen Mann.
    »Zehn Jahre und die Revolution. Danach braucht ein Mensch nicht mehr viel, um zu leben«, johlte der Alte, schlug mit der einen flachen Hand auf meinen Hinterkopf, mit der anderen auf den Tisch, und er richtete, trotz seiner Schmerzen, wieder einmal seinen Rücken auf.
    Als nur wenige Wochen später die Truppen des rumänischen Königs in der Hauptstadt einmarschierten, war Großpapa längst wieder nach Hause zurückgekehrt und hatte begonnen, seine abendlichen Feuer zu entfachen. Die Mutter hatte ihn angefleht: Die Felder lagen brach, und ohne Männer war es schrecklich einsam im Haus. So erlebte er nicht, wie Horthy und seine Milizen der Räteregierung mit weißen Handschuhen den Garaus machten, wie sie in die Menge schossen und die Pester Genossen im Frühnebel verscharrten, der wie
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