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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Gedanken wählte ich die Nummern, die ich mit Marya verband, deren Rechts-Links-Oben-Unten-Bewegungen auf dem Display ich längst auswendig kannte, by heart, und in Gedanken legte ich rasch auf. Ich wußte, es würde wieder nur durchklingeln, zwei lange Minuten, bevor mir die Telefongesellschaft mit aufdringlichem Besetztzeichen verkünden würde: »Gib die Leitung endlich frei für Menschen, die hierzulande etwas erreichen wollen, zumal jemanden erreichen wollen, zumal jemanden, den sie auch erreichen können!«
    Ich flirtete mit der Schaffnerin, bestellte einen Kaffee. Dann noch einen. Ich spielte mit dem Rausgeld, acht Fünfhunderter und ein Tausendrubelschein. Der Schein war kaputt, trug ein großes ausgestanztes Loch in seiner Mitte, sei nur noch achthundert wert, scherzte die Zugbegleiterin.
    Ich verschüttete Kaffee.
    Auf dem Tisch zeichnete ich den Bewegungsablauf der Telefonnummer in einer Lache nach. Marya. Ich suchte, meinen Bewegungsplan der nächsten Stunden zu rekapitulieren. Zu ordnen. Zu zähmen. Zu bändigen. Zu dressieren.
    Bis Baranawitschy waren es anderthalb Stunden.
    Dann begann ich zu schreiben. Mir fielen die Worte wieder ein, die Lieblingsworte meines ungarischen Literaturprofessors: Schreiben heiße, schreibend den eigenen Tod zu erfinden.
    Ich habe Draht gekauft , schrieb ich, Draht zum Überbrücken der Sicherung.
    Ich schrieb, trank Kaffee, schrieb und schrieb.
    Hinter Baranawitschy war die Landschaft aufgerieben, von der Nacht vergewaltigt. Sonne, die über einer Schneelandschaft untergegangen war. Oder genauer: alles andere als untergegangen war. Verblichenes Schwarzblau am Horizont, in den Höhen noch immer graduelles Grau, die letzten schneefreien Grasflächen am Schienenrand noch zu erkennen, nur die Birkenwäldchen waren keine Birkenwäldchen mehr. Erst morgen würden sie ihre Farbe und Gestalt zurückerhalten.
    Dann, schon ganz nah: Brest. Brest durch das Loch in der Tausendrubelnote. Die Ebene. Dahinter der Fluß. Über dem Fluß die Heldenfestung, der Himmel, der aufziehende Regen, Grauregen. Vom Licht der Stadt angestrahlt: die Schlote, die Türme, die Kirchen. Der rote Stern über dem Bahnhofsgebäude.
    Und meine Angst. Angst vor den Bahnhöfen der großen Städte. Die schon immer scharf bewacht worden sind.
    Brest. Die Stadt weidete sich vor meinen Augen aus, bis sie dalag wie erlegtes Wild.
    Es war 23 Uhr. In einer halben Stunde würden wir in die Umspurhallen einfahren. Ob ich inzwischen auf Fahndungsfotos war? Wenn nur die Kopfschmerzen nicht wären, nicht schon wieder diese Kopfschmerzen! Die Migränetablette, die ich im Mund zerbiß, schmeckte nach Galle.
    Ich ging noch einmal auf die Zugtoilette, bevor die Schaffnerin sie verschließen und nicht wieder öffnen würde, bevor wir weit genug auf polnischem Boden wären. Im Klosett verklumpten Tabakkrümel und Fäden von einem Zigarettenrest, Scheiße und zerknülltes Papier zu einer gelbbraunen Melasse. Ich versuchte, sie mit meinem Strahl zu versenken, zu sehen, was zuletzt unterging, den Widerstand hielt. Es war das Papier.
    Ich beschloß, mich hinzulegen. Auch wenn es nicht wahrscheinlich war, daß ich in den Umspurhallen mehr als zehn Minuten am Stück schliefe.
    Ich hörte, wie der Zug in die erste Halle einfuhr, zog die Jalousie vor dem Fenster ganz herunter. Für einen Moment erhellten grelle Funken die Nacht. Durch einen Riß, der sich über die gesamte Breite zog, drangen die Lichtfetzen ins Abteilinnere. Ein tiefes Kollern. Das Spannen einer riesenhaften Feder. Es begann bei den hinteren Waggons und setzte sich nach vorn fort.
    Dann begann die Tablette zu wirken, und ich nickte ein.
    Ich tauchte und tauchte und tauchte, ohne zu atmen. Ich sah eine Höhle vor mir, einen Karstgang, das Wasser wurde kälter, und ich schwamm hinein.
    Sekundenschlaf.
    Lichtbogen. Ein Schweißgerät.
    Die Eisenbahn fährt vor und zurück, vor und zurück.
    W lesu radilas jolatschka – Im Walde wuchs ein Tannenbäumchen.
    Eine helle und eine dunkle Stimme, eine junge und eine alte, eine weibliche und eine männliche.
    Ein Schrecken ohne Ende.
    Sekundenschlaf.
    Die Eisenbahn fährt vor und zurück, vor und zurück.
    Der Riß in der Jalousie.
    Die Glut einer Zigarette.
    Ein Gesicht, das eines Toten, ganz nah an der Fensterscheibe.
    Von der Tag- und Nachtgleiche menschlichen Verstandes.
    Sekundenschlaf.
    Wenn es einer hinkriegt, dann du, Wasja.
    Der Wagen hebt sich, jault auf, fährt krachend nieder.
    Brest Zentralny.
    Beton und Stahl.
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