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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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ein klassikliebender Mittzwanziger mit lichtem Haupthaar zugestiegen. Aus seinen Ohrstöpseln dröhnten die Tenebrae-Responsorien, die Höhen ekelhaft zerfetzt. Ich erkannte sie schon nach den ersten Tönen. Sofort war sie wieder da, meine kaum zu erklärende Angst vor kontagiöser Magie, wenn ich diese Musik höre. Vielleicht hatte Gesualdo die Melodieführung schon im Kopf, als er seine Frau, ihren Liebhaber und die kleine Tochter tötete.
    Verehrte Passagiere! Marya wollte mich befreien. Die wilden Schwäne. Es war wie im Märchen. Nur daß ich nicht das willenlose Brüderlein war. Und daß Schwesterlein und Brüderlein auch nicht daran gedacht hatten, die Hexe und ihr Viehzeug auf immer loszuwerden. Ein Fehler. Ein großer Fehler!
    Verehrte Passagiere! Seien Sie freundlich zueinander!
    Das Kind, das mit seiner Mutter zugestiegen war, sah mich mit großen Augen an. Es schüttelte den Kopf. Die Mutter sprach besänftigend auf das Kleine ein, doch unablässig schüttelte es den Kopf, sah mich an, schüttelte den Kopf, sah mich an. In diesem Moment wurde mir bewußt, daß ich töten würde. Daß ich ein Leben auslöschen würde, nicht nur einen Leib. Oder Fleisch. Fleisch, das sich in meines verkrallt hatte. Und verbissen. Nicht das allein. Sondern ein Leben. Ich würde jahrelang versuchen, es mit einem neuen Namen zu belegen, aber schließlich würde ich doch daran scheitern. Mord, würde ich sagen müssen.
    Verehrte Passagiere!
    Mutter und Kind stiegen aus. Und ich spürte, wie das Leben in mir zu betteln begann. Mein Leben. Es würde so lange betteln, bis ich in Kauf nähme, vor mir zwei blasse graue Quader zu sehen und in ihrer Mitte die Tag für Tag neu gezählte Menge rostiger Stäbe. Sollte es schiefgehen. Als die Gitterstäbe sich auflösten, sah ich mich selbst vor Alezja in Ketten liegen. Die Baba Jaga. Wie sie mich gehetzt hat. Wie sie mich geritten hat. Mein Fleisch. Mich hatte sie nie gemeint. Immer nur ihre Schwester. Alezja war ein Machtmensch. Ich mußte handeln wie ein Machtmensch, wennich sie besiegen wollte. O vos omnes, qui transitis per viam, attendite, et videte si est dolor similis sicut dolor meus – Seht, ob es einen Schmerz gibt, dem meinen gleich. Die Hexe sollte verschwinden. Einfach nur verschwinden. Aus meinem Leben. Aus Manjas Leben. Aus dem Leben.
    Verehrte Passagiere! Seien Sie freundlich zueinander! Bieten Sie Ihren Platz Helden an!
    Die Worte verschwammen. Als ich an der Njamiha ausstieg, war es vierzehn Uhr.
    Ich habe Draht gekauft. Draht zum Überbrücken der Sicherung.
    Und einen Pürierstab, dieselbe Marke, dasselbe Modell, das mein Tantchen dazu benutzt, um ihren Tag mit einem Bananen-Shake zu beginnen.
    Es würde nicht schiefgehen. Tatsiana hatte sich oft genug beim Hausverwalter beschwert über die Sicherungen, die ohne ersichtlichen Grund heraussprangen, und die wieder einzuschrauben ihr auf Dauer zu mühselig war. Selbst der Hausverwalter würde vermuten, daß sie es war, die in einem Anfall von Unzufriedenheit mit seinen professionellen Fähigkeiten den Draht angebracht haben mußte. Schließlich konnte Tanja nicht damit rechnen, daß der Pürierstab hinüber war. Alezjas vermaledeite Sucht nach Bananen!
    Weil die Metro voll war, ging ich in ein Schnellrestaurant und stopfte mich mit Bliny voll, bis mir schlecht wurde. Dann setzte ich mich zurück an meinen Tisch und machte mich daran, den Pürierstab mit meinem Taschenmesser aufzuschrauben.
    Es war ein Spiel mit Draht. Von hier aus besehen, waralles eine molekulare Winzigkeit, eine Winzigkeit, an der ich manipulierte. Nicht der Rede wert. Über kurz oder lang hätte es Alezja sogar zuhause passieren können. Wenn ich an Großpapas Reparaturarbeiten am Küchenlicht dachte!
    Es begann zu regnen, zu schneien, zu regnen. Ich ging zu Fuß bis zur Station Maladzjozhnaja, den Kragen meines Hemds hochgeschlagen. Zuhause habe ich Kaffee gekocht, habe mich hingesetzt, bin wieder aufgestanden. Ich würde schnell handeln müssen, bevor Tatsiana zurückkäme. Bevor ich mir alles anders überlegte. Ich hatte zwei Tage. Bis Donnerstag. Ich würde es heute abend machen. Lesja würde die Wohnung gegen 20 Uhr verlassen und nicht vor vier Uhr morgens heimkommen. Und ich würde, kaum daß die Spielshows begonnen hätten, wieder auf der Straße sein.
    Den Sekundenzeiger der Uhr vor Augen verlangsamte sich alles vor mir. Meine Hände glitten im Zeitlupentempo über mein Werkzeug. Rechts von mir: das Messer, die Zange.
    Die leitenden Teile im
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