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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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Eins 1974–1984 Prolog
    In einer Samstagnacht im September 1974 fuhr ein fast fabrikneuer, senffarbener VW-Golf S auf der Bundesautobahn 2, vom Kreuz Hannover-Ost kommend, mit etwa 160 Stundenkilometern an der Ausfahrt Lehrte vorbei. Der Wagen wurde plötzlich so stark abgebremst, dass Reifenabrieb auf der Fahrbahn verblieb, und hielt mit zwei Rädern dies- und zwei Rädern jenseits der Standstreifenmarkierung. Da es auf vier Uhr morgens zuging, war so gut wie kein Verkehr auf der Strecke. Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein; die verpasste Ausfahrt Lehrte lag etwa 500 Meter hinter dem Fahrzeug. Der Wagen wurde so stark beschleunigt, wie dies im Rückwärtsgang eben möglich war. Der Fahrer eines in diesem Moment auf der Überholspur mit knapp 200 Stundenkilometern vorbeirasenden Porsche 911 beobachtete, wie der Golf zwischen rechter Fahrbahn und Standspur stark hin und her schlingerte. Offenbar hatte der Fahrer des Wagens Mühe, die Kontrolle über das schnell rückwärtsfahrende Auto zu behalten. Der Porschefahrer hupte, wurde aber nicht wahrgenommen. Er hielt an der nächsten Notrufsäule und alarmierte die Polizei.
    Kurz bevor der Kleinwagen die Ausfahrt erreichte, traf dort, ebenfalls vom Kreuz Hannover-Ost kommend, ein unbeladener, zweistöckiger Sattelschlepper ein, der sich auf dem Weg zum Volkswagenwerk befand. Der Fahrer des LKW sah den Golf sehr spät, weil er eine angeregte Diskussion per CB-Funk führte, und glaubte erst nicht, tatsächlich ein rückwärtsfahrendes Fahrzeug vor sich zu haben. Dann bremste er stark, aber es war bereits zu spät. Die Aufprallgeschwindigkeit betrug insgesamt noch etwa 85 Stundenkilometer, bei einem Masseverhältnis von ungefähr fünfzehn zu eins.
Die Insassen des senffarbenen Golfs, der durch den Zusammenstoß auf zwei Drittel seiner ursprünglichen Länge zusammengestaucht und über die rechte Leitplanke katapultiert wurde, waren sofort tot. Der Fahrer des Lastwagens erlitt beidseitig komplizierte Brüche im Unterschenkelbereich sowie eine starke Gehirnerschütterung, sein Fahrzeug wurde vergleichsweise gering beschädigt. Im Volkswagen hatte sich ein Ehepaar befunden, der Mann zweiunddreißig Jahre alt, die Frau achtundzwanzig. Bei ihm wurden posthum 2,4 Promille Blutalkohol festgestellt, bei ihr immerhin noch 1,5 Promille. Sie kamen von einer Feier bei Freunden in Hannover-Langenhagen, denen sie versichert hatten, sie würden nur ihre Sachen aus dem Auto holen und sich dann ein Taxi rufen.
    Die Eheleute hießen Rolf und Sabine Köhrey und waren meine Eltern.
Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Rock Your Baby« von George McCrae.

1. Haarausfall
    Ich war am Todestag meiner Eltern sechs Jahre alt. Wir wohnten in einer Reihenhaussiedlung in Lehrte. Am späten Nachmittag hatten sie mich zur Nachbarin gebracht, die ich »Tante Ina« nennen musste und in deren Wohnung es stark nach Zigarettenqualm roch. Ich hatte meine Matchboxautos mitgebracht und auf dem Wohnzimmerteppich gespielt, der voller Hundehaare war, weil Tante Ina zwei Collies besaß, die Haarausfall hatten, wie ich annahm. Papa jedenfalls hatte welchen und redete andauernd darüber; in der Duschtasse lagen manchmal Büschel seiner dunkelblonden Locken. Ich schob die gelbweißgrauen Hundehaare zu kleinen Hügeln zusammen und umkurvte sie mit meinen Lieblingsautos, einem roten Chevrolet mit Flügeln an der Heckklappe und einem VW-Käfer, dessen Lack schon stark zerkratzt war. Als Tante Ina den Ton am Fernseher ausschaltete und eine Zigarette in den Berg drückte, der aus dem Aschenbecher emporragte, um mir mitzuteilen, dass es Zeit fürs Bett wäre, nahm ich den Feuerwehrwagen mit der abgebrochenen Leiter und ließ ihn in den Chevy krachen.
    »Poing!«, rief ich.
    Tante Ina sah mir beim Zähneputzen zu, dann musste ich mich in ihr Ehebett legen, das auf einer Seite eine tiefe Kuhle hatte, in die ich mich immer rollen ließ. Ina war geschieden. Ihr Bett roch auch nach Rauch und nach etwas Anderem, etwas Süßlichem, Fauligem, Fleischigem, das ich nicht kannte und das mich ein bisschen ekelte.
    Als sie mich weckte, war es draußen noch dunkel, und das war ungewöhnlich. Tante Ina schlief im Wohnzimmer, wenn ich bei ihr war, und meine Eltern holten mich immer erst am nächsten Vormittag ab; meistens wurde ich vor Ina wach. Sie sah zerzaust aus, über dem Haar trug sie eine Art Badekappe aus Frischhaltefolie, durch die man Lockenwickler sehen konnte. Im Flur waren Menschen, ich hörte
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