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Letzte Ausfahrt Ostfriesland

Letzte Ausfahrt Ostfriesland

Titel: Letzte Ausfahrt Ostfriesland
Autoren: Theodor J. Reisdorf
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Prolog
     
    Enttäuscht legte ich den Hörer auf die Gabel zurück. Auf meiner Stirn hatte sich Schweiß gebildet. Für Sekunden war ich ratlos.
    Die Auskunft, die ich soeben von Landwirt Jannssen erhalten hatte, steigerte meine Ängste, die dem Verbleib meiner Tochter galten. Sie studierte in Berlin Zeitungswissenschaften und hatte mit ihrer Schulfreundin Elisabeth Jannssen gemeinsam eine kleine Wohnung bezogen.
    Seit Wochen waren die Briefe ausgeblieben, und auch der wöchentliche Telefonkontakt war von ihr unterbrochen worden - für mich unerklärlich. Meine Tochter Inga hatte mich völlig ohne Nachrichten gelassen. Und nun hatte ich erfahren, dass sie ausgezogen war, ohne Elisabeth ihre Adresse zu hinterlassen.
    Meine Sorgen plagten mich schon seit Wochen und auch heute blieb das Telefon stumm. Inga war es, die mir nach dem Tod meiner Frau den Lebenssinn erhalten hatte, ihr galt meine ganze Liebe und Fürsorge.
    Ich blickte in das gepflegte Wohnzimmer. Die geschmackvolle und teure Einrichtung trug die Handschrift meiner geliebten verstorbenen Frau. Bitter fühlte ich den Schmerz der Einsamkeit.
    Für Sekunden ließ ich mich in ihren Lieblingssessel fallen, schloss die Augen und raffte mich auf zu einem Gebet, das ich aus Kindertagen noch vor mir hersprechen konnte. Aber selbst meine inbrünstige Hingabe half nicht, die anwachsende Unruhe loszuwerden.
    Immer kreisten meine Gedanken um meine verstorbene Frau, die ich mehr denn je vermisste.
    Plötzlich hielt ich es in meinem Haus nicht mehr aus. Ich verließ die Wohnung, verschloss die Haustür und holte mein Fahrrad aus der Garage.
    Ohne zu überlegen radelte ich zum Friedhof.
    Für nichts hatte ich einen Blick. Der graue Himmel über mir und die Vögel, die davonflogen und hinter mir zu lachen schienen, als ich schwer atmend in die Pedale trat, notierte nur mein Unterbewusstsein.
    Magisch zog mich der Friedhof an, der unsichtbar von krüppeligen Ahornbäumen, breitkronigen Buchen und selten gewordenen Ulmen umrandet wurde. Ich fuhr durch die Pforte an den brüchigen Pfeilern vorbei und stieg erst vor dem Grab meiner Frau ab.
    Das Rad legte ich auf den schmalen Weg, zupfte das Unkraut aus, während ich vom Grabstein Geburtstag und Sterbetag ablas.
    Meine Tochter Inga war zweiundzwanzig Jahre alt.
    Als ich mich aufrichtete und schweigend vor der kleinen Parzelle stand, blickte ich auf die zwerghaften Lebensbäume, deren Grün mir Hoffnung schenkte. Die Welt um mich herum verschwand, ich weinte und erlebte noch einmal in einer Bilderfolge Ankes mutigen Kampf gegen den todbringenden Krebs.
    Alle hatten sie stets um ihre Schönheit beneidet, die unbarmherzig von der Krankheit zerfressen worden war. Unsere Gebete hatten ihr keine Linderung gebracht, doch ihre Zuversicht gestärkt, dass auch der Tod einen Sinn haben musste. Auf dem Sterbebett hatte sie mir ihre knochige Hand hingehalten und mir ihr bleiches Gesicht zugewandt.
    »Pass auf Inga auf«, hatte sie geflüstert, während ich ihren leichten Händedruck gefühlt und durch die Tränen zugesehen hatte, wie in ihre Augen ein mir unverständliches Glück gestiegen war, bevor sie sie für immer schloss.
    Es war seltsam, wie nahe ich ihr jetzt war, hier an ihrem Grab. Wohltuend durchzog mich eine Wärme. Vor meinen geschlossenen Augen stieg plötzlich ein weiches gelbes Licht auf, gewann an Intensität, färbte sich golden ein, als blickte ich in einen Sonnenaufgang. Im Vordergrund erschien Anke, meine Frau. Schön wie zu ihren Lebzeiten, schwebte sie mir mit einem friedlichen und überglücklichen Lächeln entgegen. Starr, die Umwelt nicht mehr wahrnehmend, schien auch ich mich ihr ohne Erdberührung zu nähern. Anke trug das weiße, lange Kleid, in dem ich sie in der Ludgerikirche in Norden zum Traualtar geführt hatte.
    Ich wollte Fragen stellen, doch es gelang mir nicht. Tränen rannen mir übers Gesicht, und ich sah, dass sie ein Bild in den Händen hielt, das Inga zeigte, als sich ihre Gestalt im Licht aufzulösen begann und auch der Hintergrund sich eindunkelte.
    Ich war nie ein Glaubensfanatiker gewesen, auch kein Kirchgänger. Meine Kinderjahre hatte ich ohne Überfütterung mit Bibeltexten verlebt. Als mich die wohlige Wärme verließ, stand ich erschüttert und zitternd vor dem kalten Grabstein. Für mich gab es keinen Zweifel, meine verstorbene Frau lebte in einer anderen Welt, zu der ich keinen Zutritt hatte.
    Fast wäre ich das Opfer eines Herzschlags geworden, als ich eine knochige Hand auf meiner
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