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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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griesgrämiger Arbeitskollegen von Jens die Möbel und einen ganzen Haufen Kisten verluden, einschließlich der vier, in denen sich mein Erbe befand. Einige Möbelstücke waren verkauft oder auf den Sperrmüll gebracht worden, dazu gehörte das Drei-Etagen-Bett, in dem wir in der vergangenen Nacht unsere letzte gemeinsame verbracht hatten; Frank war immerhin schon dreizehn, und ich fühlte mich mit zwölf auch fast erwachsen, jedenfalls zu alt, um mit meinen Pflegebrüdern weiterhin ein Zimmer zu teilen – nach dem Umzug würde ich aufs Gymnasium gehen, durch das Drama meiner Eltern hatte ich ein Grundschuljahr verpasst. Meine Klassenkameraden lachten mich schon aus, weil ich in einem Etagenbett mit meinen Pflegebrüdern schlief. In Berlin sollten wir getrennte Zimmer bekommen, aber wie das genau aussehen würde, wussten wir noch nicht.
    Nach ein paar Stunden war die Wohnung leer. Überall gab es Flecken, Stellen, an denen sich Möbel befunden hatten, und die wenigen Bilder, die an den Wänden gehangen hatten, hinterließen helle Rechtecke. Während der sechs Jahre, die ich nunmehr bei Jens und Ute verbracht hatte, war die Wohnung niemals umgeräumt oder renoviert worden; meine Pflegeeltern hatten auch kein einziges neues Möbelstück dazugekauft.
    Ute würde noch ein paar Tage in Hannover bleiben, um die Handwerker zu überwachen, die ab dem Nachmittag tapezieren und streichen sollten. Darüber hatte es für Jens’ und Utes Verhältnisse heftigen Streit gegeben – eine etwa fünfminütige Diskussion, an deren Ende Jens leicht die Stimme hob, wobei sich seine mittlerweile fast bei den Ohren angekommene Glatze rötete, seine Stirn sich leicht mit Schweiß belegte und seine Augen zu winzigen Schlitzen wurden. »Ich will keinen Ärger bekommen«, sagte er.
    Ich saß mit Mark bei Jens im BMW , dem selben Wagen, mit dem mich die beiden damals abgeholt hatten, und dank Jens’ akribischer Pflege sah das Auto praktisch unverändert aus, nur roch es schon lange nicht mehr nach der Haut von Kühen. Frank durfte mit den beiden Arbeitskollegen im LKW fahren, worum ich ihn beneidete, aber wenigstens saß ich vorn. Wir fuhren etwas später ab, weil der LKW viel langsamer fahren musste. Jens hatte es so berechnet, dass wir ungefähr zur gleichen Zeit ankommen würden.
    Am Kreuz Hannover-Ost fuhr er auf die A2. Etwas später hob er die rechte Hand und zeigte auf ein Ausfahrtsschild.
»Hier ist es passiert«, sagte er und senkte die Hand wieder.
»Was ist hier passiert?«, fragte Mark. »Lehrte« hatte auf dem Schild gestanden.
»Hier sind Tims Eltern verunglückt«, erklärte Jens.
»Hier?«, war das Einzige, was ich herausbrachte. Ich war schockiert. Über den Unfall hatten wir nie wieder gesprochen, meinen Klassenkameraden hatte ich erklärt, dass meine Eltern gestorben seien, und ich hatte auch nicht weiter darüber nachgedacht. Wenn ein Mitschüler nachfragte, sagte ich automatisch: »Bei einem Autounfall.«
Jens nickte. Ich betrachtete die Fahrbahn, die keine Spuren aufwies, sah mir die Leitplanken an, das Gras und die Büsche beiderseits der Fahrbahn. Ich erwartete, dass dort irgendwas sein müsste. Ein Schild oder so was. Reste von dem zerstörten Auto. Ein Hinweis darauf, dass hier die Eltern von Tim Köhrey mit einem Sattelschlepper zusammengeprallt und gestorben waren. Aber es gab nichts. Einfach überhaupt nichts. Das verstand ich nicht. Da musste doch etwas sein. Meine Hände begannen zu zittern, und ich spürte, dass ich weinte, fand aber auch dafür keine Erklärung. Ich schloss die Augen, weil ich nicht sehen wollte, dass da nichts war. In diesem Augenblick vermisste ich meine Eltern schmerzlich, und die wenigen Erinnerungen, die ich an sie hatte, rasten durch meinen Kopf. Die erste Fahrt im neuen Golf, dem Auto, das die Welt ein bisschen verändern würde. Das Gesicht meines Vaters, wenn er mir einen neuen Stapel Formulare mitbrachte. Der Geruch meiner Mutter, das Wort »Kosmetik«.
Im Radio lief »Rock Your Baby« von George McCrae, ich kannte den Titel, weil es die oberste Single in der Kiste mit den neuesten Platten gewesen war, beim Erbe, der Plattensammlung meines Vaters.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah Jens kurz zu mir herüber und nickte wieder, aber er sagte nichts. Mark legte mir die Hand auf die Schulter – die einfühlsamste Geste, die ich in dieser Familie jemals erlebt hatte und erleben sollte. Sekunden später zog er sie wieder weg.
Nach der Autobahnraststätte Helmstedt, auf der wir kurz
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