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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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und zeigte auf vier Umzugskisten, die in einer Ecke des muffigen Kabuffs gestapelt waren. »Das ist von deinem Vater. Ich denke, du bist alt genug, es zu bekommen.« Er gab mir das Vorhängeschloss und den Schlüssel, der immer noch darin steckte, und ließ mich allein in dem kleinen Raum, der durch Maschendraht von den Nachbarkellern abgetrennt war und von einer lichtschwachen Baulampe beleuchtet wurde. In allen vier Ecken hingen dunkle, dicke Spinnenweben, der Boden war feucht.
In den Kisten befanden sich Schallplatten, in der Hauptsache Singles, massenweise davon. Die unterste Kiste enthielt die Anlage meines Vaters, zwei Plattenspieler, einen Verstärker, zwei selbstgebaute Regalboxen und eine fahlweiße Apparatur von der Größe eines Schuhkartons, die in der Hauptsache aus einer Anzahl Buchsen und zwei Drehreglern bestand, die in das Sperrholz eingelassen waren. Ich schleppte die Anlage und einen Teil der Singles nach oben und fand schließlich heraus, was es mit dem weißen Kistchen auf sich hatte – es war ein Mischpult Marke Eigenbau. Man musste die beiden Plattenspieler mit dem Mischpult und das Pult mit dem Verstärker verbinden, und dann konnte man die Schallplatten, die sich auf den beiden Tellern drehten, miteinander abmischen. Es dauerte eine Weile und brauchte, wie so oft, eine zündende Erklärung von Frank, um hinter den Sinn des Ganzen zu kommen. Bis ich irgendwie verstand: Mein Papa war eine Art UrDiscjockey gewesen. Das war fast ein Musiker.
Nach meiner Erinnerung hatte er einen Bürojob gehabt, aber welchen genau, das wusste ich nicht. Manchmal brachte er mir stapelweise Formulare mit nach Hause, weil ich kleiner Furz alte Akten über alles liebte und stundenlang die wichtig aussehenden Formulare mit Krakeleien überzog, die außer mir niemand verstand. Meine Mama betrieb eine Art Kosmetikstudio im Wohnzimmer. »Kosmetik« war eines der ersten komplizierteren Wörter, die ich früh aussprechen konnte. Nachmittag für Nachmittag kamen Nachbarinnen in unser Haus, um sich von Mama schminken und maniküren zu lassen. Das Wort »Maniküre« gefiel mir auch gut.
»Du erbst außerdem etwas Geld, aber erst, wenn du achtzehn bist«, sagte Ute, als wir im Wohnzimmer meinen Geburtstagskuchen anschnitten, einen Butterkuchen von Meyer, der mit Zucker bestreut war. »Die anderen Sachen sind verkauft worden.« Was etwas Geld bedeutete, wusste ich nicht. Etwas Geld, das waren für mich zu diesem Zeitpunkt neunzig Pfennige, viel Geld vielleicht fünf oder zehn Mark.
Das waren nicht die einzigen Überraschungen des Tages.
»Wir ziehen nach Berlin um«, eröffnete Jens, kurz bevor es in die Betten ging. »Nächsten Monat. Ich bin versetzt worden.«
Als ich Frank sehr viel später wiedertraf, lange nach meinem Ausscheiden aus der Familie, erzählte er mir, dass die Verantwortlichen in der JVA Hannover die Nase voll gehabt hatten von den Sheriffallüren meines Ziehvaters und seinem damit notwendig gewordenen häufigen Auftreten als Zeuge bei belanglosen Gerichtsverhandlungen – zuweilen mehrmals pro Woche. Außerdem hatte er seine Kollegen überwacht und sie bei Regelübertretungen angezeigt. Man hatte sich seiner entledigt.
Zwei Wochen nach dieser Eröffnung holten wir Jens zum ersten und letzten Mal von der JVA ab – Frank, Mark und ich. Es sollte eine Überraschung sein, und wir wollten endlich herausfinden, welche unglaublich wichtige Stellung er im Gefängnis innehatte, von der aus er an eine noch wichtigere und nach Berlin, wo auch immer das lag, abberufen worden war. »Er ist Direktor«, hatte Frank beschlossen. »Er foltert die Gefangenen, damit sie Geständnisse ablegen«, mutmaßte Mark. Wir hatten keine Ahnung, welche Jobs es in einer Justizvollzugsanstalt gab. Wärter, natürlich. Aber Jens konnte kein einfacher Wärter sein.
Wir umkreisten das weitläufige Gelände zweimal, bis wir endlich den Mut fanden, zur Pförtnerloge am Eingang zu gehen. Und da saß er dann auch schon, mit einer Mütze auf dem Kopf und durch ein Loch in der Fensterscheibe starrend, Jens, der Landlord der Hannoveraner Vororte. Er war der Pförtner. Als er uns sah, nahm sein Gesicht einen gequälten Ausdruck an. Ich glaube, er hat uns diesen Überraschungsbesuch niemals verziehen.

5. Transit
    Nach Jens’ überraschender Ankündigung ging es ziemlich schnell. Noch im August 1980, dem Monat meines zwölften Geburtstags, fuhr ein LKW vor, ein Wagen, der einen großen Kasten huckepack trug, in den wir mit Hilfe zweier einsilbiger,
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