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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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Männerstimmen.
    Ina flüsterte: »Tim, du musst aufstehen. Es ist etwas Schreckliches passiert.«
Ich nickte und kletterte aus der Kuhle. Ich nahm an, dass es brennen würde. Mama und Papa unterhielten sich oft darüber, wie gefährlich es sei, dass Tante Ina so stark und auch noch im Bett rauchen würde und dass sie sich sicherlich irgendwann mal die »Bude über dem Kopf anzünden« würde, was sie allerdings nicht davon abhielt, mich in ihre Obhut zu geben. Ich nahm den roten Plastikkoffer mit den Matchboxautos, der neben dem Bett stand, und ging im Pyjama in den Flur. Den Schlafanzug mochte ich, er war mit Donald-Duck-Figuren bedruckt.
Aber im Flur standen keine Feuerwehrmänner, sondern Polizisten. Feuerwehrmänner hatten Helme, diese Männer trugen Mützen zu ihren schwarzen Hosen und blauen Uniformjacken.
»Ist das der Kleine?«, fragte einer von ihnen und beugte sich zu mir herunter. Ina nickte nur, sie hatte Tränen in den Augen, aber es roch nicht nach Rauch, nur ganz normal nach kaltem Zigarettenqualm.
»Er muss sich anziehen. Wir nehmen ihn mit.«
»Was ist denn?«, fragte ich – und brach spontan in Tränen aus, denn plötzlich hatte ich Angst. Die Polizei holte mich, also hatte ich etwas verbrochen. Nur was? Hatte mich Stefan angezeigt, den ich gestern »Doofi« genannt hatte? War doch herausgekommen, dass wir das Markstück, das wir im Sandkasten des Kindergartens gefunden hatten, unter uns aufgeteilt hatten, statt es abzugeben? Welches meiner schlimmen Verbrechen brachte mich jetzt ins Gefängnis?
Ich kam nicht ins Gefängnis, sondern in die Obhut einer sehr netten Psychologin, die mir sanft zu erklären versuchte, dass meine Eltern tödlich verunglückt waren. Ich war erleichtert. Ich hatte schon mehrfach mitbekommen, wie Menschen im Fernsehen gestorben waren, aber wenige Tage später wieder auftauchten. Kekse-Opa, der Vater meiner Mutter, war zwar vor einigen Monaten gestorben und bisher nicht wieder zu uns gekommen, aber ich war sicher, dass er das früher oder später tun würde. Ich war so erleichtert, nicht ins Gefängnis zu kommen, dass ich der Psychologin die Sache mit dem Markstück gestand. Sie lächelte und strich mir über die Haare. Ich nahm an, dass das ein gutes Zeichen war.

2. Fliege
    Wenige Wochen später holte mich ein fremdes Ehepaar aus dem eigentlich recht netten Heim ab. Ich hatte rasch Freunde gefunden, und es war interessant, in einem kleinen Schlafsaal mit zwanzig anderen Kindern zu übernachten, aber ich rechnete jeden Tag damit, dass meine gestorbenen Eltern erschienen und mich wieder nach Hause nahmen. Oder wenigstens Kekse-Opa. Andere Verwandte hatte ich nicht, soweit ich wusste.
    Stattdessen kamen Jens und Ute.
»Das sind deine Pflegeeltern. Sie kümmern sich ab jetzt um dich«, sagte die nette Psychologin, die mich auch schon in der Nacht des Unfalls betreut hatte. Dass es einen Unfall gegeben hatte, hatte ich verstanden. Auf der Autobahn. Ein großer LKW war in das Auto meiner Eltern gerast. Ich hatte nur den Feuerwehrwagen mit der abgebrochenen Leiter, aber ein gelbes Auto, das dem funkelnagelneuen Golf meiner Eltern ziemlich ähnlich sah, also stellte ich den Unfall mit dem Feuerwehrwagen nach. Ich kniete auf dem Linoleumboden, drehte mich auf meinen Knien und ließ das größere, rote Auto dem gelben Wagen folgen. Irgendwann holte es das kleinere Auto ein, weil ich den rechten Arm schneller bewegte.
»Poing!«, rief ich dann und ließ beide Autos in den Händen durch die Luft fliegen. Meine Knie brannten ein wenig von diesem Spiel.
Jens war ein sehr blasser, dünner, nicht sonderlich großer Mann mit rötlichen Haaren, die auf der Mitte des Kopfes einen Hautkreis freiließen, und einem Vollbart. Ich fand, er sah sehr alt aus, aber nicht so alt wie Kekse-Opa, der auch einen Vollbart hatte und dessen Haare nach Zigarren stanken. Ute sah meiner Mutter ähnlich; ihr Haar war kurz und graublond, ihre Nase spitz und ihr Mund sehr schmal. Beide hatten braune Augen, die Augen von Jens waren ganz klein, wie bei einem Meerschweinchen. Wir hatten mal ein Meerschweinchen gehabt, ein dreifarbiges Rosettenmeerschwein, aber das war eines Tages einfach verschwunden. »Wir haben es freigelassen«, hatte Mama gesagt.
»Da werden sich Frank und Mark aber freuen«, sagte Jens, nahm mich bei der Hand und führte mich zu einem blauen Auto, dessen Marke ich nicht kannte. Ute ging uns hinterher.
»Was ist das für ein Auto?«, fragte ich.
»Willst du nicht wissen, wer Frank und Mark
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