Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
woanders auch, wozu also irgendwo hinfahren? Außerdem gibt es das Fernsehen«, sagte Jens, und damit hatte es sich. Fernsehen war seine dritte Leidenschaft; er liebte Krimiserien und vor allem »Der Kommissar« mit Erik Ode und später dann »Derrick«. Zwar schimpfte er bei jeder zweiten Szene, sagte Dinge wie: »Das würde ein Polizist niemals so machen« oder: »Im Gerichtssaal sitzt der Verteidiger links vom Richter«, aber er öffnete den Mund ehrfürchtig beim Erklingen der Vorspannmelodie und schloss ihn erst wieder, wenn der Abspann eingeblendet wurde. Danach sah er nickend in die Runde, vergewisserte sich, dass wir ebenso andächtig zugesehen und gelauscht hatten, jedenfalls ab der Zeit, ab der wir abends bis kurz nach neun fernsehen durften, und dann trank er sein freitagabendliches Bier aus, das einzige, das er sich überhaupt genehmigte, rülpste leise hinter vorgehaltener Hand, nickte abermals und stand auf, um eine »Schlussrunde« zu gehen, wie er es nannte. Er trat dann in den Flur, zog seine Wildlederstiefel und die Regenjacke an, nahm seinen Notizblock, einen Kugelschreiber, die Kodak-Instamatic-Kleinbildkamera und ging Streife. Ute folgte ihm in den Flur und sagte: »Sei vorsichtig!«
    Jens arbeitete in der Justizvollzugsanstalt Hannover. Er und Ute schwiegen sich, wenn wir fragten, darüber aus, was genau er in der JVA tat, aber sie gaben uns das Gefühl, ohne Jens würde Niedersachsen vor kriminellen Schurken ersticken. So oder so, es genügte Jens nicht, je nach Schicht tagsüber oder auch mal in der Nacht dafür zu sorgen, dass die Mörder und Halunken hinter Schloss und Riegel kamen oder blieben, er lebte diese Leidenschaft, seine vierte, auch in der Freizeit aus.
    Jens’ Lieblingssatz war: »Das ist illegal.« Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr, als mich ein Deutschlehrer aufklärte, sprach ich es wie Jens und alle anderen in der Familie aus: ill-egal. Mir war also lange nicht bewusst, dass es dabei nicht um eine Variante des Wörtchens egal ging.
    »Das ist illegal«, sagte Jens und legte einen erbarmungslosen Gesichtsausdruck auf, wenn wir nach der Schokolade griffen, obwohl Ute bereits dabei war, das Abendessen zu kochen, und seine Mimik ließ keine Fragen offen. Die gleiche Formulierung benutzte er, wenn er in der Nachbarschaft seine Runden drehte und auf jemanden traf, der sein Auto parkte, ohne die fünf Meter Abstand zur Einmündung einzuhalten – Jens hatte stets ein ausziehbares Bandmaß dabei –, der seinen Hund auf den Gehsteig kacken ließ, der in der Schrebergartenkolonie außerhalb der dafür vorgesehenen Zeiten Laub verbrannte, der mit seiner Hecke die vorgeschriebenen eins fünfundzwanzig Meter Maximalhöhe überschritt. In solchen Fällen kannte Jens keine Gnade. Er schoss ein Foto mit seiner Kleinbildkamera und notierte auf dem A5-Block alle Beweise, deren er habhaft werden konnte. Ab und zu gingen wir mit ihm, und ich entwickelte beinharte Ehrfurcht vor dem, was mein Pflegevater da tat. Wenn er einen Rechtsbruch sah, schritt er ein, und zwar beweissichernd . Er sprach den Delinquenten nicht an, obwohl sehr viele Leute, denen wir in entsprechenden Situationen begegneten, mit ihm zu disputieren versuchten. Das ignorierte er einfach. Manchmal wurden sie sogar handgreiflich.
    »Ich bin kein Richter«, erklärte er uns, gelegentlich auch den Leuten, die eine Diskussion anzustrengen versuchten. »Ich habe nicht darüber zu urteilen, was mit diesen Verdächtigen geschehen soll. Ich sichere nur die Beweise. Urteilen sollen dann andere.«
    Er ließ sich nie auf Diskussionen mit den Haltern scheißfreudiger Hunde oder den Besitzern vermeintlich widerrechtlich abgestellter Fahrzeuge vor Feuerwehreinfahrten oder Bordsteinabsenkungen ein; »Bordsteinabsenkung« war eine Zeitlang mein Lieblingswort. Er tat, als wären sie überhaupt nicht vorhanden, jenseits des Verstoßes.
    »In der Justiz hat jeder seine Position«, sagte er kryptisch. »Jedes Rädchen muss wissen, wohin im Getriebe es gehört.« Nach solch einem für seine Verhältnisse vor Eloquenz übersprudelnden Satz schrieb er wieder Kennzeichen auf und fotografierte Hund und Halter, zuweilen gegen ernsthaften Widerstand. Wenn eine Situation zu eskalieren drohte, brüllte Jens: »Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu tun haben!« Der täglich größer werdende Kreis auf seinem Kopf verfärbte sich dann rot, Schweißperlen traten auf seine Stirn, seine Miniaugen wurden noch schmaler. Jens war kein sehr emotionaler Mensch, wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher