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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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sind?«, fragte Ute.
»Warum?«, fragte ich zurück und wiederholte meine Frage an Jens.
»Das ist ein BMW«, erklärte er, wobei er zum ersten Mal und auch nur kurz lächelte, strich mit der rechten Hand über das Autodach, öffnete die Beifahrertür und ließ mich nach hinten klettern. Es roch nach Leder. Mama hatte von Papa ein teures Lederportemonnaie zu Weihnachten bekommen, und Mama hatte darauf bestanden, dass ich ebenfalls daran roch.
»Was ist Leder?«, hatte ich am nächsten Tag Stefan gefragt, den Kindergärtner. Er hatte gelächelt. »Die Haut von toten Kühen«, hatte er geantwortet. Das fand ich irgendwie gruselig, ein Portemonnaie aus Haut. »Kann man auch aus Menschenhaut so was machen?« Stefan hatte gelacht. »Könnte man schon. Aber man darf das nicht.«
Ute legte die Tasche, in der sich meine Sachen befanden, in den Kofferraum, ich nahm den Koffer mit den Matchboxautos mit ins Auto, und dann fuhren wir los.
»Was ist mit meinen Eltern? Wann kommen sie zurück?«, wollte ich wissen. Jens sagte nichts, Ute drehte sich vom Beifahrersitz zu mir um und sah mich traurig an. Dann wiederholte sie die seltsame Bemerkung über Frank und Mark, die ich beide überhaupt nicht kannte.
Frank und Mark waren die Söhne von Jens und Ute, Frank war sieben, also ein Jahr älter als ich, Mark vier. Sie standen in der Tür der Wohnung, die im vierten Stock lag. Frank hatte eine dicke Brille auf. Seine Augen waren hinter den Gläsern fast so klein wie die von Jens.
»Habt ihr keinen Garten?«, fragte ich, nachdem mir meine Pflegebrüder die Wohnung gezeigt hatten. Frank schüttelte den Kopf. »Aber im Hof ist ein Spielplatz.«
    Es dauerte ungefähr ein halbes Jahr, bis ich begriff, dass meine Eltern endgültig nicht mehr zurückkommen würden. Weil ich immer wieder darauf bestand, dass die gestorbenen Menschen im Fernsehen ja früher oder später auch wieder auftauchten, erklärte mir Ute irgendwann den Unterschied zwischen Schauspielern und echten Menschen. Tatsächlich aber war es Frank, der mir die Sache verdeutlichte. Trotz seiner Sehschwäche hatte Frank ein ziemlich gutes Reaktionsvermögen, und so fing er eines Nachmittags in unserem Zimmer eine Fliege. Er hielt mir die Faust ans Ohr, ich hörte das Summen des Insekts. Dann schlug er mit der sich öffnenden Hand auf die Platte des Kiefernholzschreibtisches. Er zeigte auf die zermatschte Fliege, deren Flügel und Beine verdreht waren und deren Körper keine erkennbare Form mehr hatte. Anschließend fasste er sie am nach hinten gebogenen Flügel, wobei sie einen winzigkleinen, schillernden Fleck auf der Schreibtischoberfläche hinterließ, an dem ein abgerissenes Bein kleben blieb, und legte sie in mein bestes Matchboxauto, einen Bugatti, das kein Dach hatte.
    »Die Fliege ist tot. Matsch. So sehen deine Eltern auch aus. Nichts mehr zu machen.«
Frank war so wortkarg wie sein Vater, aber es war ihnen beiden gemein, dass ihre Botschaften leicht erfassbar waren, und diese Botschaft verstand ich fast sofort. Ich nahm das Auto mit der toten, zermatschten Fliege und setzte mich auf mein Bett, das unterste in dem Dreistockbett, in dem über mir Mark und ganz oben Frank schliefen. Ich hielt den Wagen in den Händen und pustete auf das tote Insekt; die Flügel flatterten ein bisschen, aber ich erkannte, dass da nichts mehr zu machen war – so wie Frank gesagt hatte. Dann stellte ich das Auto auf mein Nachtschränkchen. Am nächsten Morgen war die Fliege immer noch tot, und als ich am Abend nachsah, war sie für immer verschwunden.

3. Streife
    Mein Pflegevater Jens, der eigentlich viel jünger war, als er aussah, hatte vier Leidenschaften. Eine davon war sein BMW, der die Familie viel – zu viel – Geld kostete und der, wie ich später erfuhr, einer der Gründe dafür gewesen war, dass sie meine Pflegschaft übernommen hatten, wenn auch nicht der Hauptgrund. Außerdem gab es da den Schrebergarten im Südosten von Hannover, der sommers wie winters an jedem Wochenende aufgesucht, gehegt, gepflegt und den Bestimmungen entsprechend akkurat gestutzt, gemäht und entunkrautet wurde; immerhin hatte Jens einen nicht unwichtigen Posten im Vorstand des Kleingärtnervereins inne, einen Job, der seiner vierten Leidenschaft sehr entgegenkam. Auf dem etwa hundert Quadratmeter großen Grundstück verbrachte die Familie nicht nur die Wochenenden, sondern auch den Urlaub. Bis zu unserem Umzug nach Berlin kam ich deshalb niemals aus Hannover heraus. »Deutschland ist hier so schön wie
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