Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
anhielten, weil Jens uns fast zwang, zur Toilette zu gehen – »In den nächsten zwei Stunden können wir nicht mehr anhalten« –, erreichten wir den Grenzkontrollpunkt Marienborn. Ich war verblüfft. Über die DDR wusste ich so gut wie nichts, Thema in der Grundschule war das Land bisher nicht gewesen, ich hatte den Begriff zwar schon einige Male gehört, konnte aber wenig damit anfangen, und auch dass es eine Mauer gab und derlei, hing irgendwo in meinem Hirn, aber gleich neben Informationen über Irland, Island und Italien. Dass wir eine Grenze überqueren würden, irritierte mich.
»Liegt Berlin denn nicht in Deutschland?«, fragte ich unsicher, als wir am Ende einer der Dutzend Warteschlangen anhielten.
»Berlin-West schon«, sagte Jens.
»Berlinwest?«, murmelte Mark, während er seine Nase gegen die Fensterscheibe drückte. »Da sind Soldaten mit Gewehren«, sagte er und klatschte mit der linken Hand gegen die Scheibe.
»Und Berlin-Süd? Berlin-Ost? Berlin-Nord?«, fragte ich, mit den Fingern die Himmelsrichtungen abzählend.
»Es gibt nur zwei, Berlin-West und Ostberlin«, erklärte Jens, wobei er »Ostberlin« verächtlich aussprach. Er nahm seine Männerhandtasche aus Kunstleder auf den Schoß und zog seinen Pass und zwei Milchkarten heraus, Ausweise für Kinder. Auf dem Foto war ich acht Jahre alt.
»Warum gibt es zwei Berlins?«, wollte Mark wissen.
Jens ließ ein sehr leises Stöhnen hören. Er legte den Gang ein und schloss zu dem Auto vor uns auf, das sich einen halben Meter vorwärts bewegt hatte.
»Das erkläre ich ein andermal«, sagte er.
Als wir neben dem Häuschen hielten, in dem eine Art Polizist saß, versteifte sich Jens.
»Ist das ein Polizist?«, fragte Mark, der auf die Fahrerseite herübergerückt war.
»Pscht«, zischte Jens. Er starrte stur geradeaus, seit er die Papiere abgegeben hatte. Mark ließ sich gegen die Lehne zurückfallen. Aber nicht für lange. Als wir zwei Meter vorgefahren waren, zeigte er auf die merkwürdige Konstruktion, die das Häuschen, an dem wir eben gehalten hatten, mit einem baugleichen verband, das sich einige Meter vor uns befand.
»Wozu ist das?«
»Das ist ein Fließband. Unsere Ausweise werden damit transportiert.«
»Und wozu?«
Jens drehte sich um.
»Halt die Klappe.«
Was auch immer geschehen würde, diese Reise entleerte ein Füllhorn von Emotionen über mich, die ich von dieser Familie so nicht kannte.
Ein paar Minuten später hatten wir unsere Ausweise zurück und fuhren auf einer Autobahn, die aus hellgrauen Zementplatten zusammengesetzt zu sein schien, wodurch ein gleichförmiges Rattatt-Rattatt von den Reifen des BMW erklang. Die Nadel des Tachometers zeigte exakt auf die 100. Jens saß ein bisschen steif im Fahrersitz, und alle paar Sekunden blickte er zum Geschwindigkeitsanzeiger.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass wir seltsame Gesellschaft hatten. Die wenigen Überholversuche, die Jens unternahm, betrafen in der Hauptsache LKWs oder ziemlich ulkige Autos, die irgendwie nach Spielzeug aussahen. Manchmal winkten die Menschen, die in diesen Autos saßen, zu uns herüber. Ich warf einen Blick zu Jens, aber der saß immer noch da, als hätte ihm jemand den Pullunder mit Blei ausgegossen, also fragte ich nicht. Ich winkte auch nicht zurück, lächelte den Leuten jedoch zu.
Die Landschaft, durch die wir fuhren, erschien mir etwas farbloser als die, die ich kannte.
»Das ganze Land ist von einer Mauer umschlossen«, sagte Jens nach einiger Zeit. »Ich erkläre euch das, wenn wir in Berlin sind.« Er wirkte bedrückt.
Von einer Mauer. Davon hatte ich gehört. War das eine Art Gefängnis? Bestand hier möglicherweise die Gefahr, dass man das vermauerte Land nicht verlassen dürfte, wenn man eines Verbrechens überführt würde? Ein unbehagliches Gefühl von Schuld überkam mich. Ich drückte mich in den Sitz und sah stur geradeaus, wie Jens das die ganze Zeit über tat.
Nach fast zwei Stunden ohne Pause oder die geringste Abweichung von konstanten hundert Stundenkilometern Reisegeschwindigkeit – »Das ist illegal«, flüsterte Jens auf meine Frage, warum wir nicht schneller fuhren – wiederholte sich das Procedere der Grenzkontrolle. Jens hatte gelbliche Zettel bekommen, die der polizistenartige, sogar im Vergleich zu Jens sehr blasse Mann in dem Kabäuschen behielt, dann fuhren wir auf die Avus; am Rand dieser Autobahn war mehr Wald, als ich bisher auf einmal gesehen hatte, aber Jens nickte auf Marks Frage, ob wir wirklich schon in Berlin wären.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher