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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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einigen Schritten fragte ich: »Warum wirst du Kuhle genannt?«
Er grinste. »Das hat zwei Gründe. Erstens heiße ich Kuhlmann mit Nachnamen. Und zweitens hinterlasse ich überall, wo ich mich hinsetze, eine tiefe Kuhle. Ausgenommen Holzstühle natürlich.«
Dann musterte er mich einen Moment lang. »Wir sehen wahrscheinlich aus wie Spejbl und Hurvinek«, erklärte er.
»Speibel und wer?«
»Hurvinek. Hattet ihr kein Ostfernsehen in Hannover?« Ich schüttelte den Kopf. »Was ist Ostfernsehen?« Er grinste wieder. »Du musst noch verdammt viel lernen!«
Wir wanderten durch einige Straßen – langsam, weil Kuhle mit seinen Beinen, von denen jedes mehr als den Umfang meines Brustkorbes hatte, eine nach der Seite ausholende Schlenkerbewegung machen musste, die ihn ziemlich ausbremste. Ich sah quasi auf ihn hinunter, er war anderthalb Köpfe kleiner als ich. Mir fiel auf, dass er Jeans trug wie wir alle, aber bei seinen waren an den Seiten Stoffstreifen eingenäht, gute zwanzig Zentimeter breit, von der Hüfte bis zu den Schuhen reichend. Dadurch verliefen die Nähte nicht an der Seite, sondern im Nordosten.
»Alle meine Hosen sehen so aus«, sagte er, als ich ihn darauf ansprach. »Meine Mutter macht das. Es gibt keine Jeans in meiner Größe.«
»Wie viel wiegst du eigentlich?«
Er verzog das Gesicht. »Das ist ein Geheimnis.«
Die Straßen hier im Wedding sahen anders aus als alles, was ich aus Hannover kannte, was genau genommen nur unser kleines Neubauviertel, in dem auch meine Grundschule gelegen hatte, die Kleingartenkolonie und einige Bereiche des zerbauten Stadtzentrums waren. Hier standen Altbauten dicht an dicht, in den Erdgeschossen gab es Läden für Knöpfe, Änderungsschneidereien, sehr viele Tabakwarenhandlungen und Kneipen, in deren Fenstern gelbliche Gardinen hingen, immer die Hälfte des Fensters bedeckend, als wäre das Vorschrift. Einige Häuser hatten seltsame trichterförmige Löcher in den Fassaden.
»Das sind Einschusslöcher, noch aus dem Krieg«, erklärte Kuhle.
»Welcher Krieg?«
Er blieb stehen und musterte mich einen Moment.
»Bist du in den letzten Jahren auch wirklich zur Schule gegangen?«
Ich nickte langsam, bekam aber das ungute Gefühl, einen gewissen Rückstand aufarbeiten zu müssen.
»Der Zweite Weltkrieg, Mensch. Der große Krieg, den die Deutschen verloren haben.«
Auf den Bürgersteigen gingen einige fremdartige Menschen, viele hatten pechschwarze Haare.
»Türken«, sagte Kuhle leise. »Sind aber nett. Wir haben in der Klasse auch einen. Gürsel. Ich stell ihn dir morgen vor.«
Kuhle erzählte ziemlich viel in den wenigen Minuten, die wir gemeinsam durch meine neue Heimat gingen. »Proletengegend«, erklärte Kuhle, grinsend, eigentlich grinste er pausenlos, außer wenn man ihn nach seinem Gewicht fragte. So nannte sein Vater den Wedding, Proletengegend. Kuhles Vater war Bauarbeiter, Kuhle hatte drei Schwestern, über die er gekünstelt stöhnte.
»Das ist sie«, sagte er irgendwann. Wir blieben stehen. Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.
Auf der anderen Seite der Straße, in die wir gerade aus einer Einmündung kamen, stand die Mauer.
Eigentlich sah sie harmlos aus. Übereinandergelegte Betonplatten, dazwischen Stahlträger, und als Krone eine Röhre aus etwas, das wie Eternit aussah, alles relativ hell, jedenfalls heller als die Fassaden der meisten Häuser, die wir auf dem Weg hierher gesehen hatten.
In beide Richtungen der Straße, auf die wir nun traten, zog sie sich dahin.
»Da kommt man doch leicht drüber«, sagte ich.
»Du siehst ja auch nicht alles.«
Wir gingen ein paar Meter, währenddessen erzählte Kuhle.
»Hier drüben standen mal Wohnhäuser. Erst haben sie die Fenster zugemauert, später die Häuser abgerissen, weil immer wieder Leute durch die Keller oder die Kanalisation geflüchtet sind.«
Wir kamen an ein Holzgerüst, eine Leiter mit einer Plattform. Oben stand ein junges Paar und fotografierte.
»Du zuerst, ich will nicht auf dich drauffallen«, sagte Kuhle grinsend.
»Das ist der Todesstreifen, da sind Minen. Bomben, die explodieren, wenn man drauf tritt. Dahinter siehst du die Drähte? An denen sind Hundeleinen festgemacht. Wie bei einer Seilbahn. In den Hütten dort sind scharfe Hunde. Und die Soldaten in den Türmen haben Maschinengewehre.«
Ich konnte nichts sagen, ich war nur beeindruckt.
»Das da drüben ist die Versöhnungskirche. Die wird natürlich nicht mehr benutzt. Vielleicht reißen sie die auch noch ab.«
»Wer sind die denn
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