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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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halben Schuljahr bekommen sollten, waren ausschlaggebend dafür, ob wir auf dem Gymnasium bleiben oder in die im gleichen Haus befindliche Realschule wechseln mussten. Es stand außer Frage, dass Kuhle das Probehalbjahr bewältigen würde, und alleine deshalb musste ich mich anstrengen, den Rückstand aufzuarbeiten. Wenigstens den in Geschichte und Erdkunde. Sport war mein Ding nicht und würde es nie sein, ich hörte meinen halbwüchsigen Körper förmlich knirschen, knacken und sich sonst wie wehren, wenn ich auf dem Barren die Arme durchdrückte oder einen orangefarbenen, viel zu schweren Ball in Richtung des mikroskopisch kleinen Basketballkorbes zu schlenzen versuchte. Sport strich ich im Geiste, was zu Hause kein Problem war, denn gegen Frank, von jeher quasi die Referenzniete im Turnen, war ich immer noch der zukünftige Anwärter auf einen Weltmeistertitel aller Klassen. Immerhin legten Jens und Ute großen Wert auf respektable schulische Leistungen, was sie mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems von häuslichen Strafarbeiten und Süßigkeitenzuwendungen durchzusetzen versuchten. Erfolgreich.
Aber es gab in meiner Pflegefamilie niemanden, der mir bei meinem Problem helfen konnte. Jens und Ute hatten Schulzweige besucht, die es inzwischen überhaupt nicht mehr gab, die aber in etwa mit der Hauptschule vergleichbar waren, so viel wusste ich, seit es die, natürlich sehr kurze, Diskussion um meine Gymnasialempfehlung und ihre Folgen gegeben hatte – immerhin ging Frank auf die Realschule, und Mark kämpfte mit großen Problemen in der vierten Klasse, die ich mit einer Armada Einsen auf dem Zeugnis beendet hatte. Kuhle bot mir an, mit mir zu lernen, aber trotz seiner Fähigkeiten war mir bewusst, dass er seine Kompetenzen damit überschätzte. Also sprach ich den einzigen Erwachsenen an, den ich bis dahin in Berlin etwas besser kannte, meinen Klassenlehrer, Herrn Pirowski.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland in dieser Zeit war »Xanadu« von Olivia Newton-John & Electric Light Orchestra.

8. Schüttelfrost
    Ich schaffte das Probehalbjahr, obwohl ich mir in jeder freien Minute einen herunterholte. Die beste Handhaltung hatte ich schnell entdeckt, Zeige- und Mittelfinger unten, Daumen oben, und ich wichste von Tag zu Tag schneller, mit einer mordsmäßigen Frequenz, um nicht erwischt zu werden, manchmal allerdings so oft nacheinander, dass mein Pimmel anschließend stark gerötet war und beim Kontakt mit dem Hosenstoff brannte, einmal entzündete er sich sogar, die Vorhaut – solche Begriffe kannte ich inzwischen von Kuhle – blähte sich auf, als hätte sie jemand aufgepustet, aber ich wagte es nicht, Jens oder Ute um Rat zu fragen, was ich ohnehin so gut wie nie tat. Am Tag darauf war die Schwellung wieder verschwunden. Eine subtile Achtung vor den Selbstheilungsfähigkeiten meines Körpers stellte sich daraufhin bei mir ein. Ich reduzierte meine Freizeitbeschäftigung ein wenig, wenn auch nur sehr geringfügig.
    Während des Probehalbjahrs bekam ich zweimal in der Woche Nachhilfe von einer Schülerin aus der neunten Klasse, in der Herr Pirowski ebenfalls Mathe gab. Das Mädchen war ein gutes Jahr älter als ich und hieß Sabrina. An den Nachhilfetagen musste Kuhle alleine nach Hause gehen, weil ich mit Sabrina in der Schule blieb, um Geschichte und Erdkunde zu pauken.
    Sie war die ältere Schwester von Christian Ergel, dem unbeliebtesten Schüler meiner Klasse. Wir nannten ihn »Blutegel« oder einfach nur »Egel«, weil er sich an alle Gruppen, die sich irgendwo bildeten, anschlich und sie belauschte, selbst aber keiner Gruppe zugehörte. Christian war ein schmaler, linkischer Junge, der ein ganz klein wenig schielte, insgesamt etwas von einer Ratte hatte. Er gehörte leistungsmäßig zum Mittelfeld der Klasse, war ein ziemlich ruhiger Schüler, aber eine gnadenlose Petze. Jedenfalls behaupteten das alle.
    Sabrina hingegen strahlte. Sie hatte glänzende tiefschwarze Haare, die ein nur ganz leicht kantiges Gesicht umrahmten, das von Sommersprossen überzogen war, vor allem auf der sehr kleinen Nase, und aus dem mich die blauesten Augen ansahen, die ich je erlebt hatte. Dagegen hatte das Blau meiner eigenen Augen die Farbe von völlig ausgewaschenen Jeans. Ich war noch nicht zu Aquamarin-, Sonnenaufgangs- und Brandungsblauvergleichen in der Lage, hätte sie aber angebracht.
    Sie war freundlich, aber bestimmt, lächelte nicht so oft wie Kuhle, wenn sie es aber tat, konnte ich den Blick aus mir unerfindlichen
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