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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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überhaupt?«
Kuhle sah mich verdutzt an.
»Na die DDRler. Die Kommunisten. Die Russen. Der Ostblock.«
Er sah auf seine Armbanduhr.
»Ich muss jetzt. Komm, beeilen wir uns!«
Auf dem verbleibenden Rückweg sah ich in alle Straßen, die wir überquerten. Obwohl ich bei der Einreise nach Berlin einen anderen Eindruck bekommen hatte, fragte ich Kuhle: »Ist die Mauer hier überall in der Nähe?«
Kuhle lachte. »Nein. Die Stadt ist sehr groß. Wahrscheinlich viel größer als dein Hannover.«
Ich nickte, obwohl mir das erstens nicht als schlüssiges Argument erschien und Kuhle ja zweitens nicht wissen konnte, wie klein mein Hannover gewesen ist.
Zu Hause war noch niemand, ich hatte einige Schwierigkeiten gehabt, unseren Wohnblock zu finden, und im Treppenhaus war mir ein alter Mann entgegengekommen, der nach Scheiße stank und vor sich hin murmelte.
Jens hatte die Umzugskisten nach Räumen sortiert. In der zweiten, auf der »Wohnzimmer« stand, fand ich den Brockhaus. Viele Bücher besaßen Jens und Ute nicht, aber wenigstens eine Enzyklopädie. Ich kramte Band »M« heraus, wo unter »Mauer« nur ein Querverweis auf »Berliner Mauer« zu finden war. Also zog ich »B« hervor.
Was mich am meisten beeindruckte, war die Tatsache, dass die Mauer am 13. August gebaut worden war, am 13. August 1961. Auf den Tag genau sieben Jahre später war ich zur Welt gekommen.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland am 13. August 1961 war »Wheels« von Billy Vaughn, am Tag meiner Geburt, sieben Jahre später, also 1968, war es »Du sollst nicht weinen« von Heintje.

7. Wichsen
    Schon nach zwei Wochen war das Leben in Berlin für mich die normalste Sache der Welt – nein, mehr als das. Normalität, das war die Zeit in Hannover gewesen, die Zeit der Grundschule, der Streifengänge mit Jens, des Drei-Etagen-Bettes. In Hannover hatte ich keine Freunde gehabt und all meine Zeit mit Frank und Mark verbracht.
    Es gab eine Gemeinsamkeit, die mir bereits klargeworden war, als wir die Wohnung inspizierten, nachdem wir die ersten Kisten abgestellt hatten. Die Wohnung hatte nur ein Zimmer mehr als die alte, und dieses zusätzliche Zimmer war nur so groß wie das Bad in der vorigen Wohnung, in das mit Ach und Krach eine kurze, schmale Wanne gepasst hatte. Das neue Minizimmer wurde Franks Refugium, und dieserart entpuppte sich Jens’ Ankündigung als Lüge, wenigstens als halbe Wahrheit. Wir hatten zwar zu dritt kein gemeinsames Zimmer mehr, aber Mark und ich bekamen ein neues Doppelstockbett. Unser Raum war zwar deutlich größer als der von Frank, und ich beanspruchte unwidersprochen die obere Etage des Bettes, aber in Ruhe wichsen war ein Ding der Unmöglichkeit.
    Wichsen hieß die größte Neuentdeckung dieser ersten Wochen, die überfüllt waren mit neuen Eindrücken.
Kuhle und ich waren schnell gute Freunde geworden. In meiner Grundschulklasse hatte es kein Kind gegeben, das auch nur annähernd an Kuhles Leibesfülle herangereicht hätte, aber selbst diese vergleichsweise schlanken Dicken waren permanentes Ziel des allgemeinen Spotts gewesen, mussten sich pausenlos gegen Schmähungen wehren, in eine besondere Ecke des Schulhofs zurückziehen, vielstimmige Gesänge über sich ergehen lassen. Kuhle hingegen genoss in der Klasse großes Ansehen, denn er war der Klassenbeste und gleichzeitig hilfsbereit und freundlich. Seine Freundlichkeit überstieg alles, was ich je erlebt hatte, und es gab kaum etwas, das Kuhle aus der gemütlich-dicken, aber keineswegs trägen Reserve locken konnte. Seine Mitschüler achteten ihn, er war eine Art Jahrgangsweiser und der unangefochtene Sieger bei den Wahlen zum Klassensprecher. Dabei kannten sich die Schüler nur drei Wochen länger, als ich sie kannte.
Jens hatte Frank und mir Schülermonatskarten gekauft, hellblaue, A6-große, etwas dickere Stücken Papier, auf denen das eigene Passfoto mit Nieten befestigt war, auf die man monatlich eine Art Rabattmarke kleben musste und die fast alle Schüler in einer Klarsichthülle mit Paketschnur um den Hals trugen, wenn sie in den Bus einstiegen. Franks Realschule befand sich im selben Gebäude wie mein Gymnasium, was ihm schrecklich peinlich zu sein schien, vor allem in dem Moment, wenn wir uns trennten und ich, der ein Jahr Jüngere, in die Gymnasialklasse stiefelte, während er zu den Realschülern abbog. Frank vermied es, mit mir gemeinsam zur Schule zu fahren, auch wenn wir gleichzeitig Unterrichtsbeginn hatten. Als ich das bemerkte, sprach ich ihn auch nicht mehr
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