Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
Einige Minuten später sah ich den Funkturm und das raumschiffartige, silbrig glitzernde ICC, das, wie mein Pflegevater erläuterte, der jetzt etwas gesprächiger wurde und sich sichtlich entspannte, im vergangenen Jahr eröffnet worden war.
»Vielleicht besichtigen wir das mal«, versprach er. Das Versprechen sollte er nie einlösen.
Jens hielt mit der linken Hand das Lenkrad und gleichzeitig einen Zettel, auf dem er den Weg notiert hatte. Er war zwar schon hier gewesen, um die Wohnung zu mieten, aber er hielt sich das Stück Papier trotzdem immer wieder vor die Nase.
»Kaiserdamm«, sagte er, als wir auf eine mächtige Allee einbogen. »Ernst-Reuter-Platz«, wenig später. An diesem Platz standen die höchsten Häuser, die ich je gesehen hatte, an einem war der Schriftzug »Telefunken« zu lesen, in der Mitte des Platzes sprudelte ein Springbrunnen.
»Großer Stern. Das ist die Goldelse.« Mark und ich reckten die Köpfe, drückten unsere Wangen an die Scheiben, um den goldfarbenen Engel auf dem grauschwarzen Turm sehen zu können.
Bald darauf hielten wir in der Turmstraße in Berlin-Wedding, die ab diesem Tag unser Zuhause sein würde. Jens fuhr einen kleinen Umweg, um uns die JVA Moabit zu zeigen, seinen zukünftigen Arbeitsplatz. Die Türme, die auf dem Gelände standen, ähnelten denen, die wir zuvor an der Grenze gesehen hatten, wirkten aber moderner. Er sagte nichts darüber, ob wir ihn dort würden besuchen dürften. Oder welche Position er bekleiden würde.
»Gefängnisse überall«, dachte ich, fand die Stadt aber trotzdem vom ersten Eindruck her prima.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Funkytown« von Lipps Inc.

6. Mauer
    Ich habe kaum visuelle Erinnerungen an meine Eltern, natürlich war mein Vater riesengroß für mich gewesen. Erstaunlicherweise gab es nur den musikalischen Nachlass und keine Fotos, vielleicht hatte irgendwer entschieden, es wäre besser für den kleinen Pflegefall, keine Bilder von seinen Eltern zu sehen. Aber ich erinnerte mich an scherzhaft-liebevolle Äußerungen meiner Mutter, die meinen Vater manchmal »knochig« oder »spack« genannt hatte.
    Ich war mit zwölf spack und knochig, und seit etwa einem halben Jahr wuchs ich wie der Teufel. Als mich mein Pflegevater am Montag nach unserem Umzug ins Gymnasium brachte, zur letzten Stunde, weil Jens dem neuen Arbeitgeber einen Antrittsbesuch abstatten musste, wurde mir schon beim Betreten des Klassenzimmers bewusst, dass ich zu den größten Schülern dieses Jahrgangs gehörte. Vorher, in der Grundschule, hatte ich das kaum bemerkt. Ich lächelte schüchtern in die Runde grinsender Gesichter, der Lehrer forderte die Schüler auf, zur Begrüßung aufzustehen, und ich kam mir vor wie der Funkturm, den ich am Tag zuvor zum ersten (und vorläufig letzten) Mal gesehen hatte. Ich nahm neben einem unglaublich dicken Jungen Platz, der hellblonde Stoppelhaare hatte und überhaupt nicht mehr aufhörte zu lächeln. Er war mit Abstand der fetteste Mensch, den ich je in meinem Leben gesehen hatte.
    »Das ist Tim Köhrey aus Hannover«, sagte der Lehrer, ein auch ziemlich kleiner, rundlicher Mensch, der sich als Herr Pirowski vorgestellt hatte, unser Klassen- und Mathelehrer.
    »Weiß jemand, von welchem Bundesland Hannover die Hauptstadt ist?«
    Ich war ziemlich überrascht, dass um mich herum gut und gerne zwanzig Hände in die Höhe schossen. Hauptstadt? Bundesland? Ich wusste nicht einmal, wovon der Mann da vorne redete.
    »Niedersachsen«, sagte ein Mädchen zwei Reihen hinter mir.
    »Niedersachsen«, flüsterte ich. Es kam mir vor, als hörte ich dieses Wort zum ersten Mal. Nieder. Sachsen.
»Hast du Heimweh?«, fragte der dicke blonde Junge leise.
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste ja nicht einmal, wo genau ich mich befand.
»Ich bin Micha. Aber alle nennen mich nur Kuhle.« Er reichte mir unter dem Tisch die Hand.
»Tim«, flüsterte ich.
»In dieser Klasse schenken wir zwischen den Pausen unserem Lehrer uneingeschränkte Aufmerksamkeit«, sagte jemand direkt neben mir. Da stand Herr Pirowski, aber er lächelte.
Nach der Schule und dem Händeschütteln mit einigen neuen Mitschülern fragte mich Kuhle, wo ich wohnte. Jens hatte mir Kleingeld gegeben, um mit dem Bus zu fahren, und er hatte aufgeschrieben, welche Busse ich zu nehmen hatte.
»Wir haben den gleichen Weg«, sagte er. »Wie lange bist du schon in Berlin?«
»Seit gestern.«
»Und warst du schon mal hier?«
»Nein, noch nie.«
»Ich zeig dir was.«
Nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher