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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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hier vorbeigekommen. Sie hatten Tiere und all so was. Auch ein Riesenweib.«
    Bartleboom fragte sich, ob es nicht angebracht wäre, sich nach Tante Adelaide zu erkundigen. Zwar war sie vor Jahren schon gestorben, aber dieses Kind schien eine Menge zu wissen. Schließlich beschränkte er sich lieber darauf, das Bett zu verlassen und zum Fenster zu gehen.
    »Wenn es dir nichts ausmacht, ich muß ein bißchen Luft schnappen.«
    Der Junge rückte auf der Fensterbank ein Stückchen zur Seite. Kalte Luft und Nordwind. Vor ihm bis ins Unendliche das Meer.
    »Was sitzt du hier oben die ganze Zeit herum?«
    »Ich schaue.«
    »Da gibt’s nicht viel zu sehen.«
    »Sie scherzen wohl?«
    »Na ja, man sieht das Meer, das stimmt, aber das Meer ist das Meer, immer gleich, Meer bis zum Horizont; wenn’s hochkommt, fährt mal ein Schiff vorbei, was ja auch gerade nichts Weltbewegendes ist.«
    Der Junge wandte sich zum Meer hin, wandte sich wieder Bartleboom zu, wandte sich wieder zum Meer hin und wandte sich erneut Bartleboom zu.
    »Wie lange bleiben Sie?« fragte er ihn.
    »Ich weiß nicht. Ein paar Tage.«
    Der Junge kam vom Fensterbrett herunter, ging auf die Tür zu und blieb auf der Schwelle stehen, von wo aus er Bartleboom eine Zeitlang beobachtete.
    »Sie sind mir sympathisch. Wenn Sie abreisen, sind Sie vielleicht nicht mehr ganz so dumm.«
    Bartleboom wurde immer neugieriger zu erfahren, wer diese Kinder wohl erzogen hatte. Ein Phänomen offenbar. 
     
    Abend. Pension Almayer. Zimmer im ersten Stock am Ende des Korridors. Schreibtisch, Petroleumlampe, Stille. Ein grauer Morgenmantel, darin Bartleboom. Zwei graue Pantoffeln, dann seine Füße. Ein leeres Blatt auf dem Schreibtisch, Federhalter und Tintenfaß. Bartleboom schreibt. Er schreibt. 
     
    Meine Angebetete, 
    nun bin ich am Meer angekommen. Ich erspare Ihnen die Mühen und das Elend der Reise: was zählt, ist, daß ich jetzt hier bin. Die Pension ist einladend: einfach, aber einladend. Sie liegt auf der Kuppe eines kleinen Hügels direkt am Strand. Abends steigt die Flut, und das Wasser kommt fast bis unter mein Fenster. Man könnte meinen, man sei auf einem Schiff. Es würde Ihnen gefallen.
    Ich war noch nie auf einem Schiff.
    Morgen werde ich meine Studien aufnehmen. Der Ort scheint mir ideal dafür. Zwar verkenne ich nicht die Schwierigkeit des Unterfangens, aber Sie wissen – Sie allein auf der Welt –, wie sehr ich bestrebt bin, das Unternehmen zu Ende zu bringen, das ich ehrgeizig an einem Glückstag vor zwölf Jahren ausgearbeitet und begonnen habe. Sie mir bei guter Gesundheit und in freudiger Stimmung zu denken wird mir zur Ermutigung dienen.
    Tatsächlich hatte ich nie zuvor daran gedacht: aber ich war wirklich noch nie auf einem Schiff.
    In der Einsamkeit dieses von der Welt abgelegenen Ortes begleitet mich die Gewißheit, daß Sie in der Ferne nicht die Erinnerung verlieren an den, der Sie liebt und immer der Ihre sein wird.
    Ismael A. Ismael Bartleboom
     
    Er legt den Federhalter hin, faltet das Blatt zusammen und schiebt es in einen Umschlag. Er steht auf, nimmt eine Kassette aus Mahagoniholz aus seinem Schrankkoffer, klappt den Deckel auf und läßt den Brief unverschlossen und ohne Anschrift hineinfallen. In der Kassette befinden sich Hunderte ebensolcher Umschläge. Unverschlossen und ohne Anschrift.
    Bartleboom ist achtunddreißig. Er glaubt, daß er eines Tages irgendwo auf der Welt einer Frau begegnen wird, die von jeher seine Frau ist. Manchmal grämt er sich darüber, daß das Schicksal ihn so beharrlich und mit taktloser Hartnäckigkeit warten läßt, doch mit der Zeit hat er gelernt, die Sache mit großer Gelassenheit zu betrachten. Seit Jahren nun schon ergreift er fast täglich die Feder und schreibt ihr. Er hat weder Namen noch Anschriften, die er auf die Umschläge schreiben könnte: aber er hat ein Leben, das er erzählen kann. Und wem sonst, wenn nicht ihr? Wenn sie sich begegnen werden, so denkt er, wird es eine Freude sein, ihr eine mit Briefen angefüllte Mahagonikassette in den Schoß zu legen und ihr zu sagen:
    »Ich habe auf dich gewartet.«
    Sie wird die Kassette öffnen, und mit Bedacht wird sie, wann immer sie will, die Briefe einen nach dem anderen lesen und dabei einer kilometerlangen Spur blauer Tinte folgen und die Jahre – die Tage, die Augenblicke – an sich nehmen, die jener Mann ihr bereits geschenkt hatte, als er sie noch gar nicht kannte. Oder sie wird ganz einfach die Kassette ausschütten und – verblüfft
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