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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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regungslos. Im Sand sitzend, alle fünf, und um sie herum war kilometerweit niemand.
    »Habt ihr das gut verstanden?«
    »Ja.«
    »Habt ihr all das deutlich vor Augen?«
    »Ja.«
    »Dann paßt auf. Jetzt wird es schwierig. Ein alter Mann. Schneeweiße Haut, magere Hände; er geht mühsam und schleppend. Er geht die Hauptstraße eines Dorfes hinauf. Hinter ihm Hunderte und Aberhunderte Personen, alle Leute des Ortes ziehen singend hinter ihm her, sie haben ihre Sonntagskleider angelegt, kein einziger fehlt. Der alte Mann geht weiter, und es ist, als sei er allein, völlig allein. Er kommt an die letzten Häuser des Dorfes, aber er bleibt nicht stehen. Er ist so alt, daß ihm die Hände zittern und ein wenig auch der Kopf. Aber er schaut ganz ruhig nach vorn und bleibt selbst dann nicht stehen, als er an den Strand kommt, er schiebt sich zwischen die im Sand liegenden Boote, und bei seinem wackligen Gang scheint er von einem Moment zum anderen hinzufallen, aber dann fällt er doch nicht. Ihm folgen all die anderen, einige Meter hinter ihm zwar, aber sie sind immer noch da. Hunderte und Aberhunderte Personen. Der Alte geht durch den Sand, und das fällt ihm noch schwerer, aber es ist ihm gleich, er will nicht stehenbleiben, und da er nicht stehenbleibt, kommt er schließlich bis ans Meer. Das Meer. Die Leute hören auf zu singen und bleiben ein paar Schritte vom Ufer entfernt stehen. Nun scheint er noch einsamer zu sein, der Alte, während er ganz langsam einen Fuß vor den anderen setzt und ins Meer hineingeht, nur er allein ins Meer hinein. Ein paar Schritte noch, und das Wasser reicht ihm bis zu den Knien. Seine durchnäßte Kleidung klebt ihm an den spindeldürren Beinen, nur Haut und Knochen. Die Welle gleitet vor- und zurück, und er ist so dünn, daß du denkst, sie wird ihn fortspülen. Aber nichts von alledem, er bleibt dort stehen, wie ins Meer eingepflanzt, die Augen starr nach vorne gerichtet. Die Augen geradewegs in die des Meeres gerichtet. Stille. Nichts bewegt sich mehr rings umher. Die Leute halten den Atem an. Ein Zauber.
    Dann
    senkt der Alte
    den Blick, taucht
    eine Hand
    ins Wasser
    und
    zeichnet
    bedächtig
    das Zeichen
    eines Kreuzes.
    Bedächtig segnet er das Meer.
    Und das ist etwas Riesenhaftes, ihr müßt euch das vorstellen, ein schwacher alter Mann, eine unmerkliche Geste, und mit einemmal geht eine Erschütterung durch das Meer, das ganze Meer, bis zum hintersten Horizont, es bebt, es schüttelt sich, es löst sich auf, und in seine Adern gleitet der Honig eines Segens, der jede Welle verzaubert und alle Schiffe der Welt, die Unwetter, die tiefsten Abgründe, die finstersten Gewässer, die Menschen und die Tiere, die Sterbenden, die Ängstlichen, die, die hinschauen, verhext, entsetzt, gerührt, glücklich, gezeichnet, als das Meer mit einemmal eine Sekunde lang den Kopf senkt, das ungeheure Meer, das nicht länger Rätsel, nicht länger Feind, nicht länger Schweigen ist, sondern Bruder und willfähriger Hort und Schauspiel für die Geretteten. Die Hand eines alten Mannes. Ein Zeichen im Wasser. Du schaust auf das Meer, und es macht dir keine Angst mehr. Ende.«
    Schweigen.
    Was für eine Geschichte … dachte Dood. Dira wandte sich um und schaute auf das Meer. Was für eine Geschichte. Das wunderschöne Kind zog die Nase hoch. Ob das wahr ist?, dachte Ditz.
    Der Mann blieb ruhig im Sand sitzen und schwieg. Dol schaute ihm in die Augen.
    »Ist das eine wahre Geschichte?«
    »Es war eine.«
    »Und sie ist es nicht mehr?«
    »Nein.«
    »Warum?«
    »Niemand bringt es mehr zuwege, das Meer zu segnen.«
    »Aber der alte Mann konnte es.«
    »Der alte Mann war alt und hatte etwas in sich, das es heute nicht mehr gibt.«
    »Einen Zauber?«
    »So ähnlich. Einen schönen Zauber.«
    »Und wo ist der hingekommen?«
    »Abhanden gekommen.«
    Sie konnten es einfach nicht glauben, daß er wirklich im Nichts verschwunden sein sollte.
    »Schwörst du es?«
    »Ich schwöre.«
    Er war wirklich verschwunden.
    Der Mann erhob sich. Von weitem sah man die Pension Almayer, fast durchsichtig in dem vom Nordwind verwässerten Licht. Es schien, als sei die Sonne in der helleren Himmelshälfte stehengeblieben. Und Dira sagte:
    »Du bist hierhergekommen, um das Meer zu segnen, nicht wahr?«
    Der Mann schaute sie an, machte ein paar Schritte auf sie zu, beugte sich zu ihr hinab und lächelte.
    »Nein.«
    »Was machtest du dann in dem Zimmer da?«
    »Wenn man das Meer nicht mehr segnen kann, so kann man es vielleicht
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