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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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jeden Blödsinn machen. Er machte einen ganz, ganz einfachen. Er fing an zu rennen, aber zu rennen wie ein Verrückter, zum Luftwegbleiben, er stolperte und stand wieder auf; ohne auch nur einmal aufzuhören, rannte er, so schnell er konnte, als würde er von der Hölle verfolgt. Dabei verfolgte ihn überhaupt niemand, nein, nur, daß er rannte und sonst nichts, er allein den verlassenen Strand entlang, mit aufgerissenen Augen und im Hals pochendem Herzen, etwas, von dem man sagen würde, wenn man es sähe: der bleibt nie mehr stehen.
    Wie gewöhnlich mit baumelnden Beinen auf dem Fensterbrett sitzend, löste Dood die Augen vom Meer, wandte sich zum Strand hin und sah ihn.
    Es war göttlich, wie er rannte, da gab es gar nichts.
    Dood lächelte.
    »Er ist fertig.«
    Er hatte Ditz an seiner Seite, den, der die Träume erfand und sie dann verschenkte.
    »Entweder ist er wahnsinnig geworden, oder er ist fertig.« Am Nachmittag waren alle am Strand, flache Steine werfen und sie hüpfen lassen und runde Steine werfen, um sie plumpsen zu hören. Alle waren sie zugegen: Dood, der extra von seiner Fensterbank heruntergestiegen war, Ditz, der mit den Träumen, Dol, der für Plasson so viele Schiffe entdeckt hatte. Dira war da. Und sogar das wunderschöne Kind, das in Ann Deveriàs Bett schlief – weiß der Himmel, wie es hieß –, war dabei. Alle waren da: um Steine ins Wasser zu werfen und dem Mann zuzuhören, der aus dem siebten Zimmer gekommen war. Ganz leise sprach er.
    »Stellt euch zwei Menschen vor, die sich lieben … die sich lieben. Und er muß aufbrechen. Er ist Seemann. Er geht auf eine große Reise über das Meer. Und sie stickt mit ihren Händen an einem Seidentaschentuch … sie stickt ihren Namen hinein.«
    »June.«
    »June. Sie stickt mit einem roten Faden. Und denkt: Er wird es immer bei sich tragen, und es wird ihn vor allen Gefahren behüten, vor Sturm, vor Krankheiten …«
    »Vor großen Fischen.«
    »… vor großen Fischen …«
    »Vor den Bananenfischen.«
    »… vor allem. Davon ist sie überzeugt. Doch sie gibt es ihm nicht gleich, das nicht. Vorher bringt sie es in ihre Dorfkirche und sagt zu dem Priester: Sie müssen es mir segnen. Es soll meinen Liebsten beschützen, und Sie müssen es segnen. Also legt der Priester es vor sich hin, beugt sich ein wenig darüber und zeichnet mit einem Finger ein Kreuz darüber. Er spricht einen Satz in einer komischen Sprache, und mit einem Finger zeichnet er ein Kreuz darüber. Könnt ihr euch das vorstellen? Eine ganz kleine Geste. Das Taschentuch, jener Finger, der Satz des Priesters, ihre lächelnden Augen. Könnt ihr das nachvollziehen?«
    »Ja.«
    »Dann stellt euch jetzt folgendes vor. Ein Schiff. Ein großes. Es läuft gerade aus.«
    »Das Schiff von dem Seemann von vorhin?«
    »Nein. Ein anderes Schiff. Aber auch dieses läuft gerade aus. Sie haben es blitzblank geputzt. Es schwimmt im Wasser des Hafens. Und vor sich hat es kilometerweit das Meer, das schon auf das Schiff wartet, das Meer mit seiner ungeheuren Kraft, das irrsinnige Meer, vielleicht wird es friedlich sein, aber vielleicht wird es das Schiff auch mit seinen Händen zermalmen und es verschlingen, wer weiß. Niemand spricht darüber, aber alle wissen, wie stark das Meer ist. Und dann besteigt ein schwarz gekleidetes Männchen das Schiff. Alle Seeleute sind an Deck mit ihren Familien, ihren Frauen, den Kindern, den Müttern, alle stehen schweigend da. Das Männchen geht leise vor sich hin murmelnd über das Schiff. Er geht bis zum Bug, kehrt dann zurück, er geht langsam zwischen den Seilen herum, den eingezogenen Segeln, den Tonnen, den Netzen. Er murmelt noch immer merkwürdige Dinge vor sich hin, und es bleibt kein Winkel des Schiffes übrig, bis zu dem er nicht vordringt. Schließlich bleibt er mitten auf der Brücke stehen. Und kniet nieder. Er senkt den Kopf und murmelt immerfort in seiner merkwürdigen Sprache, so daß man meinen könnte, er spräche mit ihm, mit dem Schiff, er würde ihm etwas sagen. Dann schweigt er unvermittelt und zeichnet langsam mit der einen Hand ein Kreuz auf die Holzbohlen. Das Kreuzzeichen. Und da wenden sich alle dem Meer zu mit dem Blick des Siegers in den Gesichtern, denn sie wissen, daß dieses Schiff heimkehren wird, es ist ein gesegnetes Schiff, es wird sich dem Meer stellen, und es wird ans Ziel kommen, nichts kann ihm schaden. Denn es ist ein gesegnetes Schiff.«
    Sie hatten sogar aufgehört, Steine ins Wasser zu werfen. Sie hörten nur noch zu,
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