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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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Erinnerungen, Doktor. Und böse Erinnerungen verderben das Leben.«
    »Es ist ein böses Leben, Marie, das die Erinnerung verdirbt.«
    »Aber Sie sind nicht böse.«
    »Ich habe Dinge getan, da unten. Und die waren grauenhaft.«
    »Warum?«
    »Sie waren grauenhaft. Niemand könnte sie verzeihen. Niemand hat sie mir verziehen.«
    »Sie sollten nicht mehr daran denken …«
    »Und noch grauenhafter ist dieses: Ich weiß, daß ich, wenn ich heute dahin zurückkehren müßte, die gleichen Dinge wieder tun würde.«
    »Hören Sie auf, Doktor …«
    »Ich weiß, daß ich die gleichen, identischen Dinge wieder tun würde. Ist das etwa nicht abscheulich?«
    »Doktor, ich bitte Sie …«
    »Ist das nicht abscheulich?« 
     
    »Die Nächte werden langsam wieder kühler …«
    »Ja.«
    »Ich würde Sie gern nach Hause begleiten, Doktor, aber ich will meine Frau nicht allein lassen …«
    »Nein, machen Sie sich nur keine Umstände.«
    »Aber … ich möchte, daß Sie wissen, daß es mir großes Vergnügen bereitet, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
    »Ganz meinerseits.«
    »Wissen Sie, als Sie vor einem Jahr hier eintrafen, sagte man, Sie seien …«
    »… ein hochmütiger, aufgeblasener Arzt aus der Hauptstadt …«
    »Ja, mehr oder weniger. Die Leute hier sind mißtrauisch. Bisweilen kommen sie zu merkwürdigen Vorurteilen.«
    »Wissen Sie, was sie mir über Sie sagten?«
    »Daß ich reich sei.«
    »Ja.«
    »Und schweigsam.«
    »Ja. Aber auch, daß Sie ein guter Mensch seien.«
    »Ich hab’s Ihnen ja gesagt: Die Leute hier kommen zu merkwürdigen Vorurteilen.«
    »Es ist seltsam. Zu denken, daß ich hier bin. Für einen wie mich … ein aufgeblasener Arzt aus der Hauptstadt … Zu denken, daß ich hier alt werde.«
    »Sie scheinen mir noch ein wenig zu jung, um darüber nachzudenken, wo Sie alt werden wollen, finden Sie nicht?«
    »Vielleicht haben Sie recht. Aber hier ist man dermaßen weit weg von allem … Ich frage mich, ob es je etwas geben wird, das mich von hier fortbringen kann.«
    »Denken Sie nicht darüber nach. Falls es so kommt, dann ist es sicher etwas Schönes. Und wenn nicht, wird sich dieses Städtchen glücklich schätzen, Sie zu behalten.«
    »Es ist eine Ehre, wenn einem der Bürgermeister persönlich so etwas sagt …«
    »Ach, erinnern Sie mich nicht daran, ich bitte Sie …«
    »Jetzt muß ich aber wirklich gehen.«
    »Ja. Aber kommen Sie wieder, wann immer Sie wollen. Es wird mir eine Freude sein. Und auch meine Frau wird darüber sehr glücklich sein.«
    »Seien Sie dessen versichert.«
    »Dann gute Nacht, Doktor Savigny.«
    »Gute Nacht, Herr Deverià.« 

7. Adams
     
    Nach Sonnenuntergang blieb er noch stundenlang wach. Die letzte unschuldige Zeit eines ganzen Lebens.
    Dann verließ er sein Zimmer, ging lautlos den Korridor hinauf und blieb vor dem letzten Zimmer stehen. Keine Schlüssel in der Pension Almayer.
    Eine Hand lag auf der Türklinke, die andere trug einen kleinen Kerzenleuchter. Augenblicke wie Nadeln. Die Tür ging geräuschlos auf. Stille und Dunkelheit im Zimmer.
    Er trat ein, stellte den Kerzenleuchter auf den Schreibtisch und schloß die Tür hinter sich. Das Einrasten des Schlosses schallte durch die Nacht: Im Halbschatten bewegte sich etwas in den Laken.
    Er ging auf das Bett zu und sagte:
    »Es ist aus, Savigny.«
    Ein Satz wie ein Säbelhieb. Savigny fuhr, von einem Schreckensschauer aufgepeitscht, im Bett hoch. Seine Augen spähten in das schwache Licht der wenigen Kerzen, er sah die glänzende Klinge eines Messers und das regungslose Gesicht eines Mannes, das er jahrelang versucht hatte zu vergessen.
    »Thomas …«
    Ann Deverià schaute ihn verwirrt an. Sie stützte einen Arm auf, warf einen Blick in den Raum, begriff nicht, suchte erneut das Gesicht ihres Liebhabers, glitt an seine Seite.
    »Was ist hier los, André?«
    Er schaute weiter entsetzt vor sich.
    »Thomas, halt ein, du bist wahnsinnig …«
    Aber er hielt nicht inne. Er kam ganz nah an das Bett, hob das Messer und stieß es mit Macht nieder, einmal, zweimal, dreimal. Die Laken tränkten sich mit Blut.
    Ann Deverià hatte nicht einmal die Zeit aufzuschreien. Sie starrte verwundert auf die dunkle Flut, die sich über ihr ausbreitete, und fühlte, wie das Leben mit einer Geschwindigkeit aus ihrem offenen Körper glitt, die ihr nicht einmal Zeit zu einem Gedanken ließ. Mit aufgerissenen Augen sank sie zurück und sah nichts mehr.
    Savigny bebte. Überall war Blut. Und eine unsinnige Stille. Die Pension Almayer
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