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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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ruhte. Regungslos.
    »Steh auf, Savigny. Und nimm sie auf die Arme.«
    Thomas’ Stimme klang unerbittlich gelassen. Es war noch nicht zu Ende, nein.
    Savigny bewegte sich wie in Trance. Er stand auf, hob Ann Deveriàs Körper auf und ließ sich, ihn auf den Armen tragend, aus dem Zimmer schleifen. Er brachte kein einziges Wort heraus. Er konnte nichts mehr sehen und auch nichts mehr denken. Er bebte nur noch.
    Seltsamer kleiner Umzug. Der wunderschöne Körper einer Frau wie in einer Prozession getragen. Ein lebloses blutiges Bündel in den Armen eines Mannes, der sich zitternd vorwärtsschleppt, gefolgt von einem gleichmütigen Schatten mit einem Messer in der Faust. So durchschritten sie die Pension und traten zur Strandseite hinaus. Ein Schritt nach dem anderen durch den Sand bis zum Meeresufer. Hinter ihnen eine Blutspur. Auf ihnen ein wenig Mondschein.
    »Nicht stehenbleiben, Savigny.«
    Taumelnd setzte er seine Füße ins Meer. Er spürte das Messer in seinem Rücken und auf seinen Armen ein Gewicht, das ihm tonnenschwer vorkam. Wie eine Marionette schleppte er sich ein paar Meter voran. Die Stimme gebot ihm stehenzubleiben.
    »Hör es dir an, Savigny. Das ist das Geräusch des Meeres. Dieses Geräusch und das Gewicht auf deinen Armen sollen dich für den Rest deines Lebens verfolgen.«
    Er sprach gemessen, ohne Gefühlsregung und mit einem Anflug von Müdigkeit. Dann ließ er das Messer ins Wasser fallen, drehte sich um und kehrte auf den Strand zurück. Er schritt darüber hin und folgte den vom Sand aufgesogenen dunklen Flecken. Er ging langsam, er hatte keine Gedanken mehr und keine Geschichte.
    Wie angenagelt auf der Schwelle zum Meer, während die Wellen ihm die Füße umschäumten, blieb Savigny, zu keiner Geste fähig, regungslos stehen. Er bebte. Und er weinte. Eine Larve, ein Kind, ein Wrack. Blut und Tränen rannen an ihm herunter: das Wachs einer Kerze, die niemand mehr auslöschen würde. 
     
    Adams wurde auf dem Platz von Saint Amand im Morgengrauen des letzten Apriltages gehängt. Es regnete stark, dennoch waren viele aus ihren Häusern gekommen, um sich an dem Schauspiel zu ergötzen. Er wurde noch am selben Tag begraben. Niemand weiß, wo. 

8. Das siebte Zimmer
     
    Die Tür ging auf, und aus dem siebten Zimmer trat ein Mann. Einen Schritt vor der Schwelle blieb er stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Die Pension schien verlassen. Kein Geräusch, keine Stimme, nichts. Durch die Fensterchen des Korridors schien die Sonne herein, durchschnitt den Halbschatten und warf kleine Ausschnitte des klaren und lichten Morgens auf die Wände.
    In dem Zimmer war alles mit eifriger, doch rascher Sorgfalt aufgeräumt worden. Ein gepackter, noch offener Koffer auf dem Bett. Stapel von Papier auf dem Schreibtisch, Federhalter, Bücher, eine ausgelöschte Lampe. Zwei Teller und ein Glas auf dem Fensterbrett. Schmutzig, aber ordentlich. Der Teppich auf dem Boden hatte ein großes Eselsohr, als hätte jemand ein Lesezeichen an der Stelle angebracht, um eines Tages darauf zurückzukommen. Im Sessel lag eine große Decke, mehr schlecht als recht zusammengefaltet. An der Wand sah man zwei Bilder hängen. Zwei völlig gleiche.
    Die Tür hinter sich offen lassend, durchschritt der Mann den Korridor, stieg die Treppe hinab, wobei er eine undefinierbare Melodie vor sich hin sang, und blieb vor der Rezeption – wenn man sie so nennen will – stehen. Dira war nicht da. Das Gästebuch lag wie immer auf seinem Pult. Der Mann begann zu lesen und steckte sich dabei das Hemd in die Hose. Komische Namen. Er schaute wieder in die Runde. Diese Pension war mit Sicherheit die allerverlassenste in der Geschichte der verlassenen Pensionen. Er betrat den Aufenthaltsraum, strich ein wenig um die Tische herum, roch an einem Blumenstrauß, der in einer scheußlichen Kristallvase verwelkte, ging auf die Glastür zu und öffnete sie.
    Was für eine Luft. Und das Licht.
    Er mußte die Augen halb schließen, so stark war es, und die Jacke mußte er enger um sich zusammenziehen bei all dem Wind, Nordwind.
    Der ganze Strand vor ihm. Er stellte seine Füße in den Sand. Er schaute sie sich an, als seien sie in diesem Augenblick von einer langen Reise zurückgekehrt. Er schien ehrlich erstaunt, daß sie wieder da waren. Er hob erneut den Kopf und hatte einen Ausdruck im Gesicht, wie ihn Menschen manchmal haben, wenn ihr Kopf leer ist, entleert, glücklich. Das sind ganz merkwürdige Momente. Du würdest, ohne zu wissen warum,
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