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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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doch noch verkünden.«
    Das Meer verkünden. Das Meer verkünden. Das Meer verkünden. Damit nicht alles, was in der Geste jenes alten Mannes lag, verlorengehen möge, weil vielleicht doch noch ein Stückchen jenes Zaubers durch die Zeiten zieht, und irgendwie könnte man ihn vielleicht finden und festhalten, bevor er für immer entschwindet. Das Meer verkünden. Weil es das ist, was uns übrigbleibt. Weil wir, die wir ohne Kreuze, ohne alte Männer, ohne Zauber vor ihm stehen, doch eine Waffe haben müßten, irgend etwas, um nicht einfach still zu sterben und Schluß.
    »Das Meer verkünden?«
    »Ja.«
    »Und du warst die ganze Zeit da drinnen, um das Meer zu verkünden?«
    »Ja.«
    »Aber wem denn?«
    »Wem, ist nicht wichtig. Wichtig ist der Versuch, es zu verkünden. Irgendwer wird schon zuhören.«
    Sie hatten sich schon gedacht, daß er ein wenig seltsam sein müßte. Aber nicht auf diese Weise. Auf eine verständlichere Weise.
    »Und man braucht alle diese Blätter Papier, um es zu verkünden?«
    Dood war es ganz allein zugefallen, die große Tasche voller Papier die Treppe hinunterzuschleppen. Die Sache hatte ihn nachhaltig verärgert.
    »Eigentlich nicht. Wenn jemand ein wirklicher Könner wäre, würden ihm wenige Worte ausreichen … Womöglich würde er mit vielen Seiten anfangen, wenn er dann aber nach und nach die richtigen Worte fände, solche, die in einem einzigen Mal alle anderen ausdrücken, käme er von tausend Seiten auf hundert, dann auf zehn, und die würde er dann liegenlassen und warten, bis die überflüssigen Wörter von den Blättern fortflögen, danach müßte er nur noch die verbleibenden aufsammeln und sie in wenigen Wörtern zusammenfassen, zehn, fünf, so wenige, daß man, je näher man sie betrachtet und ihrem Klang lauscht, am Ende nur noch ein einziges in der Hand hat. Und wenn du es aussprichst, verkündest du das Meer.«
    »Nur eins?«
    »Ja.«
    »Und welches?«
    »Wer weiß.«
    »Irgendein beliebiges Wort?«
    »Ein Wort.«
    »Auch so eins wie Kartoffel?«
    »Ja. Oder auch Hilfe! oder und so weiter, man kann es so lange nicht wissen, bis man es gefunden hat.«
    Während er sprach, schaute er sich im Sand um, der Mann aus dem siebten Zimmer. Er suchte einen Stein.
    »Entschuldige mal …«, sagte Dood.
    »Mhm.«
    »Kann man auch Meer benutzen?«
    »Nein, Meer kann man nicht benutzen.«
    Er war aufgestanden. Er hatte den Stein gefunden.
    »Dann ist es unmöglich. Es ist einfach unmöglich.«
    »Wer weiß schon, was unmöglich ist.«
    Er ging nahe ans Wasser heran und warf ihn weit ins Meer. Es war ein runder Stein.
    »Plumps«, sagte Dol, der sich damit auskannte.
    Doch der Stein begann auf dem Wasser zu hüpfen, einmal, zwei-, dreimal, er hörte gar nicht mehr auf, er sprang, daß es eine Freude war, immer weiter ins offene Meer hinaus, als hätte man ihm die Freiheit geschenkt. Es schien, als wolle er überhaupt nicht mehr haltmachen. Er machte auch nicht mehr halt. 
     
    Am Morgen darauf verließ der Mann die Pension. Der Himmel war seltsam, einer von denen, die schnell vorbeihuschen, als hätten sie es eilig, nach Hause zu kommen. Der Wind wehte aus Norden, heftig, aber ohne zu lärmen. Der Mann schritt voller Freude aus. Er nahm seinen Koffer und seine Tasche voller Papier und machte sich über die Straße, die am Meer entlang verlief, auf den Weg. Er ging schnell, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. So sah er nicht, wie sich die Pension Almayer von der Erde löste und sich ganz leicht in tausend Stücke auflöste, die aussahen wie Segel und hoch in die Luft stiegen, sie stiegen auf und nieder, sie flogen und nahmen alles mit sich in die Lüfte, auch jenes Land und jenes Meer und die Worte und die Geschichten, alles, wer weiß wohin, keiner weiß es, vielleicht wird eines Tages jemand müde genug sein, es ausfindig zu machen.
     
    Ende
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