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Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie
Autoren: Joseph Gelinek
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    Almeria, Sommer 1980
    Schon seit zehn Minuten stand ein wei ßer Mercedes 450 SL vor dem Hauptgebäude der Banco de Andalucía von Mojácar mit laufendem Motor in zweiter Reihe. Am Steuer saß eine blonde Frau mit Sonnenbrille in einem leichten, ärmellosen Leinenkleid in Grün, das im Gegenlicht ein wenig durchscheinend wurde. Sie sah so sehr nach Hollywoodstar aus, dass sie schon einige Dorfbewohner, die sich ihr mit der Bitte um ein Autogramm genähert hatten, enttäuschen und ihnen versichern musste, dass sie nicht nur nicht Jane Fonda war - auch nicht Farrah Fawcett, die andere Diva, mit der man sie verwechselt hatte -, sondern dass sie sich überhaupt nicht der siebten Kunst widmete. Ihr glamouröses Aussehen verdankte sie vor allem ihrer katzenähnlichen Pose und dem Nichts von einem Kleid, das wie angegossen saß und aus dem majestätisch ihr langer weißer Schwanenhals ragte. Die Frau vertrieb sich die Wartezeit damit, Take Five von Dave Brubeck zu hören, das Stück mit dem legendären Thema, in dem Paul Desmond am Altsaxofon die eingängige, verschlungene Melodie mit einer solchen Eleganz spielt, dass der Zuhörer den Eindruck hat, ihm werde eine Art wohlklingender Martini serviert.
    Die Hitze auf der Stra ße war so drückend, dass sich einige Fußgänger auf der Höhe des Mercedes entschlossen, unter dem einzigen Sonnendach in der N ähe Zuflucht zu suchen. Teils, um wieder zu Atem zu kommen, teils, um die Möglichkeit zu haben, aus dem Schatten heraus ausführlich das auffällige Bild zu betrachten, das die unerhörte Blondine und das imposante Auto abgaben. Die Frau schaute nach vorne und klopfte mit der rechten Hand auf dem Lenkrad den Takt der Musik, völlig unbeeindruckt von der erstickenden Hitze Almerias, die einige der Leute unter dem Sonnendach dazu brachte, wie erhitzte Hunde mit heraushängender Zunge zu hecheln. Nur einmal erlaubte sie sich einen verstohlenen Blick in Richtung des Bankinstituts, aus dem ihr Begleiter schon vor geraumer Zeit hätte herauskommen sollen. Nach weiteren fünf Minuten öffnete sich endlich die Tür, und ein großer, gutaussehender, britisch wirkender Mann steckte den Kopf heraus. Er trug eine helle Hose und ein helles Jackett, und seine Haut war so weiß, dass nicht einmal der hohe Lichtschutzfaktor der Sonnencreme, mit der er sich zu schützen pflegte, hatte verhindern können, dass er an den empfindlichsten Stellen bereits Sonnenbrand entwickelte. Das Licht auf der Straße blendete ihn und ließ ihn die Augen zusammenkneifen, so dass er in einer halb komischen, halb finsteren Grimasse wie ein Skelett sein glänzendes Gebiss zeigte. Die rechte Hand als Schirm nutzend, entdeckte er schließlich die Frau im Kabriolett, und nachdem er sich durch einen Pfiff ihre Aufmerksamkeit verschafft hatte, bedeutete er ihr mit der Hand, sie solle warten.
    Augenblicklich drehte sie die Musik leiser, damit Joe Morello, der Schlagzeuger des Quartetts, mit seinem Solo die Kommunikation nicht st örte, beugte sich durch das Beifahrerfenster und fragte: »Was ist los?«
    Der Mann improvisierte mit den H änden ein Megaphon, damit sie ihn über den Verkehr hinweg hören konnte. »Gib mir noch fünf Minuten!«
    Die blonde Sch önheit - die bei der Aussicht auf eine weitere endlose Wartezeit unter dieser gnadenlosen Sonne Grund genug gehabt hätte, die Nerven zu verlieren - reagierte mit einem umwerfenden Lächeln in Richtung des Publikums, zog den Schlüssel ab und stieg aus dem Auto. Für einen Augenblick waren in dem Licht, das durch den fast gazeartigen Leinenstoff schien, ihre wohlgeformten Beine zu erraten. Einer der Jugendlichen, der sie aus dem Schatten des Daches heraus wie verzaubert beobachtet hatte, musste schlucken. Der Mann im Jackett lief zum Wagen, um zu verhindern, dass die Frau das Stück gehen musste, das sie von ihm trennte, und als er bei ihr angelangt war, flüsterte er ihr einige Worte ins Ohr, die keiner der Dorfbewohner von seinem Beobachtungsposten aus verstehen konnte.
    Klein, mit Schnurrbart, in Hemds ärmeln und mit verschwitzten Achseln erschien plötzlich ein Angestellter in der Tür der Bank wie ein U-Boot-Kapitän aus seinem Kommandoturm und beobachtete von seinem kleinen Ausguck aus misstrauisch das Paar.
    Die Frau nickte leicht mit dem Kopf, um ihren Begleiter darauf aufmerksam zu machen, und der Mann im Jackett gr üßte mit einem gezwungenen Lächeln und einer leichten Handbewegung.
    »Das ist der Kassierer. Ich habe ihm gesagt, er solle sich
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