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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb
Autoren: Jonathan Kellerman
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1
    Ich habe Partys immer gehasst und hätte unter normalen Umständen nie die am Samstag besucht.
    Aber mein Leben war ein Scherbenhaufen. Ich nahm es nicht mehr so genau. Und landete in einem Albtraum.
    Am Donnerstagmorgen war ich der gute Doktor, konzentrierte mich auf die Patienten und passte auf, dass mein eigener Seelenmüll nicht die Arbeit verdarb.
    Ich beobachtete den Jungen.
    Er hatte noch nicht den Punkt erreicht, an dem er den Puppen die Köpfe abriss. Ich sah ihn die Spielzeugautos wieder aufheben und aufeinander zubewegen, bis sie unvermeidlich zusammenstießen.
    »Peng!«
    Das scheppernde Zusammenprallen von Metall auf Metall übertönte einen Augenblick das Winseln der Videokamera. Er warf die Autos beiseite, als ob sie ihm die Finger verbrannten. Eins landete auf dem Dach und schaukelte hin und her wie eine verunglückte Schildkröte. Er tippte mit dem Finger darauf, dann sah er, um Erlaubnis bittend, zu mir hoch.
    Ich nickte, und er hob die Autos auf. Er drehte sie herum und prüfte die glänzenden Fahrgestelle, ließ die Räder surren, ahmte das Aufheulen von Motoren nach.
    »Wuum wuum. Peng.«
    Etwas über zwei Jahre, groß und stämmig für sein Alter, flüssige Bewegungen von der Art, die einen athletischen Helden vorausahnen ließen. Blondes Haar, Stupsnase, rosinenfarbene Augen, die mich an Schneemänner erinnerten, bernsteinfarbene Sommersprossen und Pausbacken.
    Ein Kind, wie Norman Rockwell es gemalt haben könnte: ein Sohn, auf den jeder echte amerikanische Vater stolz wäre.
    Das Blut seines Vaters war ein rostfarbener Fleck auf der mittleren Leitplanke irgendwo am Ventura Freeway.
    »Wuum. Peng!«
    In den sechs Sitzungen hatten wir sprachlich noch nicht mehr aus ihm herausbekommen. Ich wunderte mich darüber und über einen gewissen Stumpfsinn in seinen Augen.
    Die zweite Kollision kam plötzlich, sie war härter. Er war sehr konzentriert. Bald kamen die Puppen an die Reihe.
    Seine Mutter sah von ihrem Sitzplatz in der Ecke auf. Sie las seit zehn Minuten dieselbe Seite eines Taschenbuchs mit dem Titel »Programmiere Dich auf Erfolg!« Die Sprache ihres Körpers verriet, dass sie nicht so gleichgültig war, wie sie tat. Sie saß steif und hochnäsig auf ihrem Stuhl, kratzte sich am Kopf, zog an ihrem langen schwarzen Haar, als ob es Garn wäre, und wickelte es sich ununterbrochen hin und her um die Finger. Einer ihrer Füße tappte dazu einen Viervierteltakt, der das weiche Fleisch ihrer weißen, strumpflosen Wade zum Erzittern brachte, bis es unter dem Saum ihres Sommerkleides verschwand.
    Beim dritten Zusammenstoß verzog sie das Gesicht. Sie ließ das Buch sinken und sah mich blinzelnd an. Fast hübsch - der Typ, der mit sechzehn, siebzehn aufblüht und dann rasch verwelkt. Ich lächelte sie an. Sie ließ sofort den Kopf sinken und kehrte zu ihrem Buch zurück.
    »Peng!« Der Junge brummte, nahm in jede Hand ein Auto, stieß sie scheppernd zusammen und ließ sie sofort fallen, als sie einander berührten. Sie polterten über den Teppich in verschiedene Richtungen auseinander. Heftig atmend rannte er hinterher.
    »Peng!« Er hob sie auf und warf sie hart auf den Boden. »Wuum!«
    Er tat das alles noch ein paarmal hintereinander, dann warf er die Autos jäh beiseite und sah sich suchend in dem Zimmer um. Er suchte die Puppen, obgleich ich sie immer an demselben Platz ließ.
    Konnte er sich nicht erinnern, oder wollte er es einfach nicht? In dem Alter konnte man nur mutmaßen.
    Das hatte ich auch zu Mal Worthy gesagt, als er mir den Fall beschrieb und um ein Gutachten bat.
     
 
    »Mit harten Fakten werde ich dir nicht dienen können.«
    »Damit rechne ich auch gar nicht, Alex. Gib mir nur irgendetwas, womit ich arbeiten kann.«
    »Was ist mit der Mutter?«
    »Wie zu erwarten: ein Trümmerhaufen.«
    »Bei wem ist sie in Behandlung?«
    »Im Augenblick bei niemandem, Alex. Ich wollte ihr eine Therapie besorgen, aber sie weigert sich hinzugehen. Wenn du dich inzwischen um Darren kümmern könntest und die Mutter auch ein bisschen davon profitierte, hätte ich nichts dagegen. Weiß Gott, sie braucht Hilfe - in dem Alter und dann so ein Schock.«
    »Wie bist du an den Fall gekommen?«
    »Sie war seine zweite Frau. Er, der Vater des Kindes, hat bei mir als Hausmeister und Mädchen für alles gearbeitet. Ich hab die Scheidung aus Gefälligkeit übernommen. Sie, die zweite Frau, erinnerte sich an mich und kam auf mich zurück. Ich habe mich dann ziemlich intensiv mit ihr beschäftigt, sie nach
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