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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb
Autoren: Jonathan Kellerman
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Tränenstrom folgte. Er warf sich auf den Boden und schlug eine Weile darauf herum, dann rollte er sich in Fötusposition zusammen, lag da und lutschte am Daumen.
    Seine Mutter blieb hinter ihrem Buch sitzen.
    Ich ging zu ihm hin und hob ihn auf.
    Seine Muskeln waren verspannt, und er kaute verbissen auf dem Daumen. Ich hielt ihn auf dem Schoß, sagte ihm, alles sei okay, er sei ein guter Junge.
    Er schlug die Augen auf und schloss sie dann wieder. Milchsüßer Atem vermischte sich mit dem nicht unangenehmen Geruch von Kinderschweiß.
    »Willst du zu Mami?«
    Schläfriges Nicken.
    Sie hatte sich immer noch nicht bewegt. Ich sagte: »Denise.« Nichts. Ich wiederholte ihren Namen.
    Sie steckte das Buch in ihre Handtasche, warf den Riemen über die Schulter, stand auf und nahm den Jungen.
    Wir verließen die Bibliothek und gingen durch das Haus nach vorn zur Tür. Als wir ankamen, schlief er. Ich hielt ihr die Tür auf. Kühle Luft wehte herein. Ein milder Sommer, der heiß zu werden drohte. Aus der Ferne kam das Brummen eines Rasenmähers.
    »Möchten Sie noch irgendetwas fragen, Denise?«
    »Nö.«
    »Wie hat er diese Woche geschlafen?«
    »Wie immer.«
    »Sechs oder sieben Albträume?«
    »Ungefähr. Ich habe sie nicht gezählt - muss ich das immer noch?«
    »Es wäre gut, wenn man wüsste, was in ihm vor sich geht.«
    Keine Antwort.
    »Der juristische Teil des Gutachtens ist fertig. Ich habe genug Informationen für Mr. Worthy. Aber Darren kämpft immer noch damit - völlig normal nach dem, was er erlebt hat.«
    Keine Antwort.
    »Diese Puppen«, sagte sie.
    »Ich weiß. Es fällt einem schwer, ihm dabei zuzusehen.«
    Sie biss sich auf die Lippe.
    »Aber es hilft ihm, Denise. Vielleicht lässt es sich machen, dass Sie das nächste Mal draußen warten. Er hat jetzt den kritischen Punkt erreicht.«
    Sie sagte: »Es ist weit bis hierher.«
    »Starker Verkehr, was?«
    »Ein Horror.«
    »Wie lange haben Sie gebraucht?«
    »Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten.«
    Von Tujunga nach Beverly Glen. Vierzig Minuten auf dem Freeway. Wenn man Freeways aushalten kann.
    »Die Straßen da unten sind wohl sehr verstopft?«
    »Hmhm. Und diese Kurven hier oben.«
    »Ich weiß. Manchmal, wenn -«
    Plötzlich ging sie auf Distanz. »Warum wohnen Sie hier, wo man Sie so schwer erreichen kann? Wenn Sie den Leuten helfen wollen, warum machen Sie’s einem dann so verdammt schwer?«
    Ich wartete einen Augenblick, bevor ich antwortete. »Ich weiß, Sie haben was durchgemacht, Denise. Wenn wir uns lieber in Mr. Worthys -«
    »Ach, vergessen Sie’s!« Und sie war zur Tür hinaus. Ich sah sie ihren Sohn über das Parkdeck und die Treppe hinuntertragen. Weil er schwer war, hatte sie einen watschelnden Gang. Sie wirkte so plump und unbeholfen, dass ich hinterherrennen und ihr helfen wollte. Stattdessen stand ich da und sah zu, wie sie sich abmühte. Sie schaffte es schließlich bis zu dem Mietwagen, fummelte lange mit einer Hand an der hinteren Wagentür herum, bis sie sie schließlich aufbekam. Sie bückte sich tief hinunter, und dann gelang es ihr, Darrens schlaffen Körper in den Kindersitz zu bugsieren. Sie warf die Tür mit einem Krachen zu, ging um den Wagen bis zur Fahrerseite herum und riss die Vordertür auf.
    Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, senkte den Kopf aufs Lenkrad hinunter und ließ ihn dort ruhen. So saß sie eine Weile da, bis sie den Motor anließ.
    Ich ging in die Bibliothek zurück, schaltete die Videokamera ab, nahm die Kassette heraus, beschriftete sie und begann mit meinem Bericht. Ich arbeitete langsam, sogar mit noch größerer Präzision als gewöhnlich.
    Das Unvermeidliche musste verhindert werden.
    Mehrere Stunden danach war das verdammte Ding fertig; der Helferrolle ledig, brauchte ich nun wieder selbst Hilfe. Ein Gefühl der Ohnmacht machte sich in mir breit, so unvermeidlich wie Ebbe und Flut.
    Ich überlegte, ob ich Robin anrufen sollte, beschloss dann aber, es nicht zu tun. Mein letztes Gespräch mit ihr war alles andere als ein Vergnügen gewesen - verbissener Austausch von höflichen Redensarten, bis schließlich doch wieder die ganze Verletztheit und Wut hervorbrach.
    »… deine Freiheit, Platz für dich selbst - ich dachte, das alles hätten wir hinter uns.«
    »Aber ich brauche meine Freiheit, Alex.«
    »Du weißt, was ich meine.«
    »Nein, das weiß ich nicht.«
    »Ich möchte bloß wissen, was du willst, Robin.«
    »Ich habe es dir hundert Mal erklärt, wie oft soll ich es noch
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