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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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altertümlichen Zartheit.
    »Was siehst du?«
    Bourgognestoff, gute Qualität und Landschaften, wie es viele gibt, gute Arbeit.
    »Es sind keine beliebigen Landschaften, Edel. Jedenfalls nicht für meine Tochter.«
    Seine Tochter.
    Es ist etwas Rätselhaftes, aber man muß versuchen, es zu erfassen, indem man die Einbildungskraft anstrengt und vergißt, was man weiß, damit die Phantasie ungehindert schweifen und weit in die Dinge hineinfließen kann, bis man erkennt, daß die Seele nicht immer ein Diamant, sondern manchmal auch ein Seidenschleier ist – das kann ich gut verstehen –, man stelle sich einen durchsichtigen Seidenschleier vor, wie leicht könnte er, schon durch einen Blick allein, zerreißen, und man stelle sich die Hand vor, die ihn lüftet – eine Frauenhand – ja –, die sich sacht bewegt und ihn zwischen den Fingern hält, wobei halten schon zu stark ist, sie lüftet ihn, als sei es keine Hand, sondern ein Windhauch, und hält ihn in den Fingern, als seien es keine Finger, sondern … als seien es keine Finger, sondern Gedanken. So etwa. Dieses Zimmer ist jene Hand und meine Tochter ein Seidenschleier.
    Ja, ich habe es verstanden.
    »Ich will keine Wasserfälle, Edel, sondern den Frieden eines Sees, ich will keine Eichen, sondern Birken, und die Berge da hinten sollen zu Hügeln werden, der Tag zum Sonnenuntergang, der Wind zur Brise, die Städte zu Dörfern, die Schlösser zu Gärten. Und wenn Falken wirklich unverzichtbar sind, dann sollen sie wenigstens fliegen, aber im Hintergrund.«
    »Gut, ich habe verstanden. Nur eines noch: Was ist mit den Menschen?«
    Der Baron schweigt. Eine nach der anderen betrachtet er alle Figuren auf der sehr großen Tapisserie, als wolle er deren Meinung hören. Er geht von einer Wand zur anderen, doch niemand spricht. Was zu erwarten war.
    »Edel, gibt es eine Art, Menschen darzustellen, die nichts Böses tun?«
    Das wird auch Gott sich gefragt haben, als es soweit war.
    »Ich weiß es nicht. Aber ich will’s versuchen.«
    In Edel Truts Werkstatt verarbeiteten sie monatelang viele Kilometer Seidengarn, das der Baron hatte liefern lassen. Sie arbeiteten stillschweigend, denn, so sagte Edel, die Stille sollte in das Gewebemuster mit eingearbeitet werden. Es war ein Faden wie die anderen, nur daß man ihn nicht sah, obwohl er da war. Also arbeiteten sie stillschweigend.
    Monatelang.
    Eines Tages kam schließlich ein Karren zum Schloß des Barons, und auf dem Karren befand sich Edels Meisterwerk. Drei enorme Stoffballen, die so schwer wogen wie die Kreuze einer Prozession. Sie wurden die Freitreppe hinauf- und die Flure entlanggetragen, von Tür zu Tür bis ins Herz des Schlosses, in den Raum, für den sie bestimmt waren. Einen Augenblick, bevor sie ausgerollt wurden, flüsterte der Baron:
    »Was ist mit den Menschen?«
    Edel lächelte.
    »Wenn Menschen unverzichtbar sind, dann sollen sie wenigstens fliegen, aber im Hintergrund.«
    Der Baron wählte das Licht des Sonnenuntergangs, um seine Tochter bei der Hand zu nehmen und sie in ihr neues Zimmer zu bringen. Edel sagt, daß sie gleich beim Eintreten vor Staunen errötete, und der Baron befürchtete einen Augenblick lang, die Überraschung könnte zu groß sein, doch nur eine Sekunde lang, denn sogleich machte sich die unwiderstehliche Stille bemerkbar, die von dieser seidenen Welt ausging, in der eine gütige Erde heiter ruhte und in der Luft schwebende kleine Menschen gemächlichen Schrittes durch den blaßblauen Himmel glitten.
    Edel sagt – und das wird sie nie vergessen –, daß sie sich alles lange anschaute, und als sie sich schließlich umwandte – lächelte sie.
    Sie hieß Elisewin.
    Sie hatte eine wunderschöne Stimme – samten –, und wenn sie ging, sah es aus, als gleite sie durch die Luft, man konnte gar nicht aufhören, sie anzuschauen. Ab und zu bekam sie Lust, ohne ersichtlichen Grund loszurennen, die Flure entlang, wem oder was auch immer entgegen, auf diesen schrecklichen weißen Teppichen. Dann hörte sie auf, der Schatten zu sein, der sie war, und rannte, aber das geschah nur selten und auf eine Weise, daß manche in den Augenblicken, in denen sie sie sahen, sich flüsternd sagen hörten …

3
     
    Die Pension Almayer konnte man zu Fuß über den Pfad erreichen, der von der Kapelle Samt Amand abwärts führte, aber auch mit dem Wagen über die Straße von Quartel her, oder auch im Kahn den Fluß hinunter. Professor Bartleboom kam durch Zufall.
    »Ist dies der Gasthof Zum
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