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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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sterben. Oder dahinschwinden. Gerade so: dahinschwinden. Du meinst, die Augen gleiten dir aus dem Gesicht, und die Hände werden zu Händen von jemand anderem, und du denkst, was ist los mit dir? Gleichzeitig pocht dein Herz zum Zerspringen, läßt dich nicht in Frieden … und es kommt dir vor, als würden sich überall Stücke von dir ablösen, und du fühlst sie nicht mehr … so, als seist du im Begriff zu vergehen; dann sage ich mir, du mußt an irgend etwas denken, du mußt dich an einem Gedanken festkrallen; wenn ich es fertigbringe, mich in dem Gedanken ganz klein zu machen, dann wird das alles vorbeigehen, ich muß nur durchhalten, aber Tatsache ist – und das ist wirklich entsetzlich – Tatsache ist, daß keine Gedanken mehr da sind, nirgendwo in dir, nicht ein einziger Gedanke mehr, sondern nur noch Empfindungen, verstehen Sie? Empfindungen … und die stärkste ist ein höllisches Fieber, ein unerträglicher Modergeruch, ein Todesgeschmack, hier im Hals, ein Fieber und ein Schraubstock, etwas, was sich festbeißt, ein Dämon, der dich beißt und zerfetzt, eine …«
    »Entschuldigen Sie, mein Herr.«
    »Ja, manchmal ist es auch alles viel … einfacher, ich meine, ich spüre, wie ich vergehe, ja, aber sanft, ganz langsam, es sind die Gefühle, Pater Pluche sagt, daß es die Gefühle sind, er sagt, ich habe nichts, um mich vor Gefühlsausbrüchen zu schützen, und so kommt es, daß mir die Dinge direkt in die Augen zu dringen scheinen und in meine …«
    »Ja, in meine Augen.«
    »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß, daß es mir schlecht geht, aber … Manchmal gibt es Dinge, die mich überhaupt nicht erschrecken, ich meine, nicht immer ist es so, letzte Nacht hat es ein fürchterliches Gewitter gegeben, Blitze, Sturm … aber ich war ganz ruhig, wirklich, ich hatte überhaupt keine Angst oder etwas derart … Aber dann genügt schon eine Farbe oder die Form eines Gegenstandes oder … das Gesicht eines Mannes, der vorübergeht, ja richtig, Gesichter … Gesichter können furchtbar sein, nicht wahr? Manchmal sind da Gesichter, die sind so echt, daß ich meine, sie wollten über mich herfallen, Gesichter, die schreien, verstehen Sie, was ich meine? Sie schreien dich an, ganz furchtbar ist das, es gibt keinen Schutz davor, es gibt keinen …«
    »Die Liebe?«
    »Pater Pluche liest mir ab und zu aus Büchern vor. Die tun mir nicht weh. Mein Vater ist dagegen, aber … nun ja, es sind auch aufwühlende Geschichten dabei, verstehen Sie? Mit Leuten, die morden, die sterben … doch ich könnte mir alles anhören, wenn es nur aus einem Buch kommt, das ist ja das Merkwürdige, ich bringe es sogar fertig zu weinen, das ist etwas Zartes, der Modergeruch des Todes hat nichts damit zu tun, ich weine, das ist alles, und Pater Pluche liest mir weiter vor, und das finde ich sehr schön, aber mein Vater darf es nicht erfahren, er weiß nichts davon, und es ist vielleicht besser, wenn …«
    »Gewiß liebe ich meinen Vater. Warum?«
    »Die weißen Teppiche?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Eines Tages habe ich meinen Vater gesehen, während er schlief. Ich bin in sein Zimmer gekommen und habe ihn gesehen. Meinen Vater. Er schlief ganz zusammengerollt, wie Kinder es tun, auf der Seite liegend, mit angezogenen Beinen, die Hände zu Fäusten geballt … nie werde ich es vergessen … mein Vater, der Baron von Carewall. Er schlief, wie Kinder schlafen. Verstehen Sie das? Wie kann man keine Angst haben, wenn selbst … wie kann es sein, wenn sogar …«
    »Ich weiß nicht. Hierher kommt nie jemand …«
    »Hin und wieder. Ich merke das doch. Sie sprechen leise, wenn ich dabei bin, und anscheinend bewegen sie sich auch … auch langsamer, als hätten sie Angst, etwas kaputtzumachen. Ich weiß aber nicht, ob …«
    »Nein, das ist nicht schwer … es ist anders, ich weiß nicht, es ist, als sei man …«
    »Pater Pluche sagt, daß ich eigentlich ein Nachtfalter hätte sein müssen, aber dann ist ein Fehler passiert, und so bin ich hierher gekommen, aber man hätte mich eigentlich nicht gerade hier ablegen dürfen, und deshalb ist jetzt alles etwas schwierig, es ist normal, daß mir alles Schmerzen verursacht, ich muß sehr viel Geduld haben und abwarten; man kann sich vorstellen, wie schwer es ist, einen Schmetterling in eine Frau zu verwandeln.«
    »Ist gut, mein Herr.«
    »Aber es handelt sich um eine Art Spiel, es ist nicht richtig wahr, aber auch nicht richtig falsch, wenn Sie Pater Pluche kennen würden
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