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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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Bartleboom richtete, lag ein Lächeln darin.
    »Ich heiße Ann Deverià.«
    »Sehr erfreut.«
    »Ich bin auch in der Pension Almayer.«
    »Das ist eine wunderbare Nachricht.«
    Wie immer blies der Wind aus Norden. Die beiden Damenschuhe durchschritten Bartlebooms ehemaliges Laboratorium und entfernten sich einige Schritte weit. Dann hielten sie an. Die Frau drehte sich um.
    »Sie nehmen doch heute nachmittag den Tee mit mir ein, nicht wahr?«
    Gewisse Dinge hatte Bartleboom bisher nur im Theater erlebt. Und im Theater kam immer die Antwort:
    »Es wird mir ein Vergnügen sein.« 
     
    »Eine Enzyklopädie der Grenzen?«
    »Ja … die vollständige Bezeichnung wäre Enzyklopädie der in der Natur feststellbaren Grenzen mit einem gesonderten, den Grenzen menschlicher Fähigkeiten gewidmeten Anhang. «
    »Und daran schreiben Sie …«
    »Ja.«
    »Allein.«
    »Ja.«
    »Milch?«
    Er nahm immer Zitrone zum Tee, Bartleboom.
    »Ja, Milch, danke …«
    Eine Wolke.
    Zucker.
    Teelöffel.
    Teelöffel, der in der Tasse rührt.
    Teelöffel, der innehält.
    Teelöffel auf der Untertasse.
    Ann Deverià sitzt ihm gegenüber und hört zu.
    »Die Natur besitzt eine ihr eigene, ganz erstaunliche Vollkommenheit, und das ist das Resultat einer Summe von Grenzwerten. Die Natur ist deshalb vollkommen, weil sie nicht unendlich ist. Wer ihre Grenzen begreift, begreift auch, wie der Mechanismus funktioniert. Es kommt auf das Verinnerlichen dieser Grenzen an. Nehmen Sie zum Beispiel die Flüsse. Ein Fluß mag lang sein, sehr lang sogar, aber er kann nicht unendlich sein. Damit das System funktioniert, muß er enden. Und ich erforsche, wie lang er sein kann, bevor er endet. 864 Kilometer. Das ist eines der Kapitel, die ich schon geschrieben habe: Flüsse. Es hat mich eine Menge Zeit gekostet, wie Sie wohl verstehen werden.«
    Ann Deverià verstand es.
    »Ein Beispiel: Das Blatt eines Baumes ist, wenn Sie es eingehend betrachten, ein äußerst kompliziertes Universum: aber in sich geschlossen. Das größte Blatt findet man in China: Es ist einen Meter und 22 Zentimeter breit und mehr oder weniger doppelt so lang. Riesig, aber nicht unbegrenzt. Und darin steckt eine präzise Logik: Ein noch größeres Blatt könnte nur an einem gigantischen Baum wachsen. Der höchste Baum hingegen, der übrigens in Amerika wächst, übersteigt 86 Meter nicht, eine beeindruckende Höhe, gewiß, jedoch gänzlich ungenügend, um auch nur eine begrenzte Zahl, denn deren Zahl wäre sicherlich begrenzt, größerer Blätter zu tragen als diejenigen, die man in China vorfindet. Erkennen Sie die Logik?«
    Ann Deverià erkannte sie.
    »Unbestreitbar sind es ebenso mühsame wie schwierige Studien, aber das Entscheidende ist das Erfassen. Und das Beschreiben. Das letzte Kapitel, das ich geschrieben habe, hieß: Sonnenuntergänge. Wissen Sie, die Tatsache, daß die Tage enden, ist einfach genial. Ein geniales System. Erst Tage und dann Nächte. Und wieder Tage. Das hört sich banal an, hat aber etwas Geniales. Dort, wo die Natur beschließt, sich selbst Grenzen zu setzen, entlädt sich eine Sensation. Sonnenuntergänge. Wochenlang habe ich sie erforscht. Es ist nicht so leicht, einen Sonnenuntergang zu erfassen. Er hat seine Zeiten, seine Ausmaße, seine Farben. Und da nicht ein Sonnenuntergang – nicht ein einziger, sage ich – dem anderen gleich ist, muß man als Wissenschaftler die jeweiligen Besonderheiten zu unterscheiden wissen und das Wesentliche herausarbeiten, bis man in der Lage ist zu sagen, dieses ist ein Sonnenuntergang, der Sonnenuntergang schlechthin. Langweile ich Sie?«
    Ann Deverià langweilte sich nicht. Jedenfalls nicht mehr als sonst auch.
    »Und so bin ich jetzt am Meer angelangt. Das Meer. Auch das Meer ist, ebenso wie alles andere, begrenzt, wissen Sie, nur, daß es sich hier ähnlich wie mit den Sonnenuntergängen verhält, es ist schwierig, den Grundgedanken herauszuarbeiten, ich meine, Kilometer um Kilometer von Felsenriffen, Ufern und Stranden in einem einzigen Bild zusammenzufassen, in einem Konzept für die Begrenzung des Meeres, etwas, was sich in wenigen Zeilen niederschreiben läßt, das in ein Lexikon paßt, damit die Menschen, die es später lesen, begreifen können, daß das Meer ein Ende hat und wie es unabhängig von dem, was drum herum vor sich geht, unabhängig von …«
    »Bartleboom …«
    »Ja.«
    »Fragen Sie mich, warum ich hier bin. Ich.«
    Stille. Verlegenheit.
    »Ich habe mich nicht danach erkundigt, nicht wahr?«
    »Dann
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