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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Autoren: Alessandro Baricco
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geworden, Spiegel und Ölfleck zugleich – wie sie dann die sanfte Steigung des Ufers hinauflief und schließlich stockte – am äußersten Rand mit einer zarten perlage versehen – wie sie dann sekundenlang zögerte, um schließlich, besiegt, aber elegant, den Rückzug anzutreten, indem sie sich zurückgleiten ließ auf einem augenscheinlich leicht zurückzulegenden Weg, in Wirklichkeit jedoch der schlammigen Gier des Sandes als Beute zugedacht, der, bis dahin unkriegerisch, mit einemmal erwachte und den kurzen Fließweg im Nichts versickern ließ.
    Bartleboom schaute.
    Im unvollkommenen Blickfeld seines sichtbaren Universums formulierte die Vollkommenheit dieser schwingenden Bewegung Versprechungen, denen die Erfüllung wegen der unwiederholbaren Einmaligkeit jeder einzelnen Welle versagt bleiben mußte. Keine Aussicht, den fortwährenden Wechsel zwischen Erschaffung und Vernichtung anhalten zu können. Seine Augen suchten die beschreibbare und geordnete Wahrheit einer gesicherten und vollständigen Erscheinung: und verfolgten am Ende doch nur die sich bewegende Unbestimmtheit des Kommens und Gehens, die jeden wissenschaftlichen Blick einlullte und belächelte.
    Das war ärgerlich. Man mußte etwas unternehmen. Bartleboom gab es auf, hin und her zu schauen. Er richtete die Augen auf einen Abschnitt des stummen, bewegungslosen Strandes vor seinen Füßen. Und beschloß abzuwarten. Er mußte aufhören, dem entnervenden Geschaukel hinterherzulaufen. Wenn der Prophet nicht zum Berg geht, etcetera, etcetera, dachte er. Früher oder später würde das exakte, von Schaum umrandete Profil der Welle, auf die er wartete, ihm in jenen Blick geraten, den er sich in seiner wissenschaftlichen Kaltblütigkeit als denkwürdig vorstellte. Und sich festsetzen genau an der Stelle, wie ein Abdruck in seinem Kopf. Dann hätte er sie verstanden. Das war der Plan. In völliger Entsagung versank Bartleboom in eine gefühllose Regungslosigkeit, verwandelte sich sozusagen in ein neutrales, unfehlbares optisches Instrument. Er atmete kaum. In den starren Gesichtskreis fiel die unwirkliche Stille eines Laboratoriums. Wie eine Falle, unbeirrbar und geduldig, lauerte er auf seine Beute. Und allmählich kam die Beute näher. Zwei Damenschuhe. Hohe Schuhe, aber dennoch Damenschuhe.
    »Sie müssen Bartleboom sein.«
    Eigentlich wartete Bartleboom auf eine Welle. Oder etwas Ähnliches. Er hob den Blick und sah eine in einen eleganten violetten Mantel gehüllte Frau.
    »Bartleboom, ja … Professor Ismael Bartleboom.«
    »Haben Sie etwas verloren?«
    Bartleboom war sich bewußt, daß er immer noch vornübergebeugt dastand, weiterhin erstarrt im wissenschaftlichen Profil des optischen Instruments, in das er sich verwandelt hatte. Er richtete sich mit aller Natürlichkeit auf, deren er fähig war. Ganz wenig.
    »Nein, ich arbeite.«
    »Sie arbeiten?«
    »Ja, ich mache … ich mache Untersuchungen, wissen Sie, Untersuchungen …«
    »Aha.«
    »Wissenschaftliche Untersuchungen, meine ich …«
    »Wissenschaftliche.«
    »Ja.«
    Schweigen. Die Frau zog ihren violetten Mantel enger um sich.
    »Muscheln, Flechten oder so was?«
    »Nein, Wellen.«
    Einfach so: Wellen.
    »Das heißt … schauen Sie mal dort, wo das Wasser aufläuft … es läuft den Strand hinauf und bleibt dann stehen … da, genau der Punkt, an dem es stehenbleibt, es dauert nur einen Augenblick, sehen Sie, genau, da zum Beispiel … sehen Sie, daß es nur einen Augenblick lang anhält und dann versickert, wenn man diesen Augenblick doch festhalten könnte … wenn das Wasser stehenbleibt, genau diesen Punkt, diese Kurve … das ist es, was ich erforsche. Wo das Wasser stehenbleibt.«
    »Und was gibt es daran zu erforschen?«
    »Nun, das ist ein wichtiger Punkt … manchmal achtet man nicht darauf, aber wenn Sie es genau überdenken, geschieht hier etwas Außergewöhnliches, etwas … Außergewöhnliches.«
    »Wirklich?«
    Bartleboom beugte sich leicht zu der Frau hinüber. Es sah aus, als wolle er ihr ein Geheimnis verraten, als er sagte:
    »Da hört das Meer auf.«
    Das ungeheure Meer, das Ozeanmeer, endlos, weit über jeden Blick hinaus, das gewaltige, allmächtige Meer – es gibt eine Stelle, an dem es endet, und einen Augenblick – , das riesige Meer eine winzige Stelle und ein unmerklicher Augenblick. Das war es, was Bartleboom sagen wollte.
    Die Frau ließ den Blick über das Wasser schweifen, das unbekümmert den Sand hinauf- und hinunterglitt. Als sie die Augen wieder auf
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