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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
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ist. Hätte jemand die
Pflanze vor die Wahl gestellt: Die Sicherheit der Mittelmäßigkeit oder eine
Chance durch Großartigkeit. Wie hätte sie sich wohl entschieden?
    Ich
gehe schnell weiter, denn mir kommen die Tränen.
    Ich
bin zu jung. Es ist nicht fair, mich vor eine solche Entscheidung zu stellen.
Es ist ebenso unfair, wenn jemand anders sie für mich trifft.
    Ich
weiß nicht, was ich wollen soll.
     
     
    Die
alte Kathedrale am Ende der Straße beruhigt mich, sobald sie in mein Blickfeld
gerät. Sie ist wie ein Fels inmitten eines sprudelnden Flusses. Die Kanten sind
bereits glatt geschliffen, aber im Großen und Ganzen ist sie immun gegen die
launenhaften Strömungen der Zeit. Ihr Anblick erinnert mich an Daniel Tammet.
Tammet war ein autistischer Savant und lebte im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Er erkannte alle Primzahlen von 2 bis 9.973 an ihrer kieselsteinartigen
Qualität, die sie in seinem Geist annahmen. Für mich ist historische Architektur,
was die Primzahlen für Tammet gewesen sein müssen.
    Der
Pfarrer grüßt mich aus dem Inneren des Gebäudes, ohne eine Antwort von mir zu
erwarten. Er kennt mich, und ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart. Er
erwartet nicht von mir, dass ich meine Zeit mit flüchtigen, völlig sinnlosen
Dingen verschwende wie den Fetzen einer Unterhaltung, die prompt im Strom der
Zeit verschwindet, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Ich gleite an ihm
vorbei in den leeren Raum, in dem die farbigen Fenster Lichtspiele an die Wände
werfen.
    Beim
Eintreten höre ich das Echo meiner Schritte, und plötzlich fühle ich mich
alleine.
    Ich
weiß, dass es andere gibt, die so sind wie ich. Die meisten gehören der
gleichen ethnischen Gruppe an, was darauf schließen lässt, dass es sich um eine
erst kürzlich erfolgte Mutation handeln könnte. Ich habe nie den Wunsch
geäußert, sie kennen zu lernen. Es schien mir unwichtig. Und jetzt sitze ich
hier, umgeben von staubigen Wänden, ziehe meine Straßenschuhe aus und frage
mich, ob das vielleicht ein Fehler war.
    Die
Papiertüte raschelt, als ich ein Paar Tanzschuhe herausziehe. Es sind
Spitzenschuhe, deren Verstärkung eine Tanzweise ermöglichen, für die die
menschliche Anatomie nicht vorgesehen ist. Ich lasse meine Füße in die Schuhe
gleiten, meine Zehen finden Halt in der so vertrauten Form der verstärkten
Spitze. Ich schnüre die Bänder mit großer Vorsicht, damit mein Fuß bestmöglich
gestützt wird.
    Andere
Leute sehen in diesen Schuhen nicht das, was ich sehe. Sie sehen nur die
verblichene Seide, abgenutzt und fadenscheinig. Sie sehen das Holz der
verstärkten Spitze, das durch die Lücken scheint. Sie sehen nicht das Leder,
das sich meiner Fußform perfekt angepasst hat. Sie wissen nicht, wie es ist, in
Schuhen zu tanzen, die sich anfühlen, als wären sie ein Teil des Körpers.
    Bei
den Aufwärmübungen bin ich mir der Schatten bewusst, die über die Wände
wandern, während der Sonnenuntergang zu Dunkelheit verblasst. Als ich mit den
letzten Pliés und Jetés fertig bin, funkeln schon die Sterne durch die bunten
Fenster, machen mich mit ihrer Bewegung schwindelig. Ich rase durch das All,
als Teil eines Sonnensystems, das dem äußeren Rand seiner Galaxie entgegen
fliegt. Ich bekomme kaum noch Luft.
    Wenn
die Strömung der Zeit zu stark wird, dann verkrieche ich mich oft in der
Dunkelheit unter meinem Bett und berühre die rauen Steine und Glassplitter, die
ich dort unten gesammelt habe. Aber heute halten meine Spitzenschuhe mich am
Boden. Ich bewege mich in die Mitte des Raumes, springe ab, gleite bis an den höchsten
Punkt …
    Und
warte.
    Die
Zeit dehnt sich und fließt wie Sirup, zieht mich in alle Richtungen
gleichzeitig. Ich bin wie der Moment zwischen zwei Sätzen in einer musikalischen
Komposition, wie ein Wassertropfen, der in einem Wasserfall auf halbem Wege in
der Zeit stehen bleibt. Kräfte wirken auf mich ein, aufpeitschend, wirbelnd,
tosend. Der Klang der Wirklichkeit ändert sich andauernd. Ich kann mein Herz in
diesem leeren Raum schlagen hören. Ich frage mich, ob Daniel Tammet sich so
gefühlt hat, als er über die Unendlichkeit nachdachte.
    Und
dann entdecke ich es, das Muster im Chaos. Es ist keine richtige Musik, aber
etwas sehr Ähnliches. Es beseitigt den Terror, der meine Muskeln lähmte, und
ich bin nicht länger wie ein Staubkorn in einem Wirbelsturm. Ich selbst bin der
Wirbelsturm. Mein Körper bewegt sich genau nach meinem Willen. Hier gibt es
keine Worte. Nur mich und die Bewegung, das
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