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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
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verloren.
    Sie
sieht mich weiter an, und ich denke darüber nach, ihr eine Antwort zu geben,
die ich mir für sie aufgehoben habe. Vor zwei Wochen hatte sie mich gefragt, ob
ich neue Tanzschuhe haben möchte. Und wenn ja, in welcher Farbe. Ich habe die
passenden Worte zusammengesucht, glatt und fest wie Kieselsteine. Aber ich
beschließe, dass es keinen Wert hat, sie auszusprechen. Bis ich eine Frage
beantworte, haben die Leute meist schon vergessen, was sie mich gefragt hatten.
    Man
hat meinem Zustand einen Namen gegeben: Temporaler Autismus. Der Name gefällt
mir nicht. Erstens ist es ein Wort und zweitens bin ich mir nicht sicher, ob
ich mit anderen Autisten etwas gemeinsam habe, abgesehen von der Abneigung zu
sprechen.
    Mit
dem Zeit-Thema haben sie jedoch Recht.
    Meine
Mutter wartet zwölfeinhalb Sekunden, bevor sie meine Schultern los lässt und
sich wieder auf den Klappstuhl setzt. Ich merke, dass sie unzufrieden mit mir
ist. Deshalb steige ich vom Fensterbrett und greife nach der Papiertüte unter
meinem Bett. Die Henkel sind aus Schnur, so rau und echt zwischen meinen
Fingern. Ich drücke die Tüte an meine Brust und schleiche mich an den sich
unterhaltenden Menschen vorbei aus meinem Zimmer.
    Unten
öffne ich die Haustür und starre in den Atem beraubenden Himmel. Ich weiß, dass
ich das Haus nicht alleine verlassen soll, aber drinnen bleiben will ich auch
nicht. Über mir bewegt sich der Himmel. Die Wolken wirbeln umher wie Blätter in
einem Wirbelsturm. Sie türmen sich auf, verschwinden, fallen auseinander und
formieren sich neu. Ein lustloses und dabei unbestreitbares Chaos.
    Ich
kann beinahe spüren, wie sich die Erde unter mir dreht. Ich fliege durchs All,
ein winziges Staubkorn, das sich nicht gegen die enormen Kräfte wehren kann,
die es umgeben. Ich fasse die Griffe meiner Tüte fester, um nicht in die
Stratosphäre hinaufgewirbelt zu werden. Ich frage mich, wie es wohl ist, wenn
man gar nicht bemerkt, wie die Zeit unsere Existenz beeinflusst. Ich frage
mich, wie es wohl ist, so zu sein wie die anderen.
     
     
    Ich
laufe unter dem glänzenden Himmel, das feste Papier der Tüte knackt, wenn sie
gegen meine Beine schlägt. Ich halte die Griffe so fest, dass die Schnur
merklich in meine Hände schneidet.
    Zu
meinen Füßen öffnen sich die Fliegenfallen, ihre stacheligen Blüten recken sich
aus den Ritzen und Rissen des Gehsteigs. Es sind ausgewilderte Zimmerpflanzen
die sich dank des Nahrungsangebots in diesem Teil der Stadt prächtig
entwickeln. In unserer Straße gibt es viele Straßencafés, und die faustgroßen
Blüten öffnen sich allabendlich, um Baguettekrümel und Wurststückchen
aufzufangen, die der Wind von den nahe gelegenen Tischen weht.
    Die
Fliegenfallen beunruhigen mich, obwohl ich niemandem erklären könnte, warum das
so ist. Sie sind wie die Wolken, die in glühenden Orange- und Rottönen über
mich hinweg ziehen. Sie verändern sich ständig, nehmen immer neue Formen an.
    Die
Pflanzen werden ihrem Namen längst nicht mehr gerecht. Sie ernähren sich nur
noch selten von Fliegen. Sich schneller zu entwickeln als die Beute, scheint
sich nicht mehr auszuzahlen, und so überleben sie, indem sie den Menschen
gefallen. Die gesprenkelten Muster ihrer Blüten werden von Jahr zu Jahr
kunstvoller. Wenn sie ein Stück Protein oder Kohlenhydrat zu fassen bekommen,
schließen sie sich so theatralisch, dass die Kinder kichern und schnell für
Nachschub sorgen.
    Eine
bestimmte Fliegenfalle zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hat eine
wundervolle Blüte, die größer und farbenfroher ist als alle, die ich je zuvor
gesehen habe. Aber der Stiel ist zu schwach, als dass er diese Innovation
tragen könnte. Die Blüte liegt auf den Gehsteig gequetscht, überragt von den
kleineren, kräftigeren Pflanzen.
    Dies
ist ein entscheidender Punkt in der Evolutionskette, und ich möchte sehen ob
die Pflanze überlebt und ihre Gene weitergeben kann. Obwohl die Fliegenfallen
an sich beunruhigend sind, empfinde ich diese eine als angenehm. Es ist wie der
Moment zwischen zwei Musikstücken. Irgendetwas wird gleich passieren, aber
niemand weiß, was genau es sein wird. Die Pflanze könnte still zugrunde gehen
oder überleben und die nächste Generation Fliegenfallen hervorbringen. Eine
Generation, die an das Überleben ein klein wenig besser angepasst ist als die
vorhergehende.
    Ich
wünsche mir, dass die Fliegenfalle überlebt, aber die kränkliche Farbe der
Blätter deutet bereits an, dass dies unwahrscheinlich
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