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Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
Autoren: Kai Meyer
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Der Angriff

    Die Stimme des Acherus weckte sie. Jolly fuhr auf und hatte das Gefühl, mit dem Schädel gegen etwas Hartes zu stoßen, so heftig waren ihre Kopfschmerzen. Sie lag auf einer kratzenden Bastmatte, neben sich den verschlungenen Wulst einer Wolldecke. Durch das grob gehauene Fenster der Höhle fiel ein schmaler Streifen Tageslicht, der die Schatten rund um die zerwühlte Schlafstatt nicht vertreiben konnte. Den Wasserkrug musste sie in der Nacht umgestoßen haben, der Inhalt war in der drückenden Hitze verdunstet. Nicht einmal die Felswände, die sie von allen Seiten umgaben, kamen gegen die stickige Witterung an. Der Schrei des Acherus. Sie hatte ihn gehört, ganz sicher. Doch jetzt war da Stille -nein, keine Stille, nur das ferne Säuseln der Karibik, das Wispern der Winde und Rauschen der Brandung. Und… ja, Stimmen. Sehr weit entfernt. Wo war sie? Was tat sie hier? Die Erinnerung brauchte einen Moment. Doch dann flossen die Bilder zurück in ihr Bewusstsein, die meisten nicht weniger schmerzhaft als das, was hinter ihrer Stirn tobte.
    Sie waren über Bord gegangen. Inmitten einer tobenden Seeschlacht, zwischen mörderischen Kanonensalven und Pulverqualm waren sie und Griffin im Wasser gelandet. Jolly entsann sich, wie sie im aufgeschäumten Meer nach Griffin gesucht hatte, wie sie ihn mit letzter Kraft an das Felsenufer einer Insel geschleppt hatte. Als die Sicht aufklarte, war ihr Schiff fort gewesen.
    Mit der Carfax waren auch die Gefährten verschwunden: Munk, Captain Walker, der Pitbullmann Buenaventure, die Piratenprinzessin Soledad und der Geisterhändler hatten sich mit dem Qualm der Geschütze in Luft aufgelöst.
    »Jolly! Du bist wach!«
    Griffin trat gebückt durch den Höhleneingang. Der Piratenjunge passte gerade durch die schmale Öffnung. Wie alle Unterkünfte auf dem Eiland war auch diese hier kaum größer als eine enge Kajüte. Doch nachdem man den beiden Wasser und Nahrung gegeben hatte, war ihnen der düstere Felsverschlag wie ein Palast vorgekommen.
    »Ich… ich hab was gehört«, brachte Jolly heiser hervor, als Griffin neben ihr in die Hocke ging. »Den Acherus, glaube ich.«
    Für einen Sekundenbruchteil geisterte Besorgnis über die Züge des Jungen. Dann aber grinste er und schüttelte so heftig den Kopf, dass die Flut aus blonden Zöpfen wie Girlanden um seinen Schädel wirbelte.
    »Das hast du geträumt«, sagte er sanft. »Hier ist nichts auf der Insel. Zumindest kein Acherus oder sonst was, das uns der Mahlstrom auf den Hals gehetzt haben könnte.«
    Höchstwahrscheinlich hatte er Recht. Jolly träumte viel, seit diese ganze Sache begonnen hatte.
    Wieder und wieder sah sie die Bilder von den endlosen Klabauterheeren, die bis zum Horizont unter den Wogen lauerten. Sie spürte die toten Fische auf ihrer Haut, die vom Himmel geregnet waren, und roch den fauligen Atem des Acherus. Und doch wurde das Böse, das die entsetzlichen Geschehnisse hervorgerufen hatte, dadurch nicht greifbarer. Der Mahlstrom und das Mare Tenebrosum blieben hinter ihren eigenen Kreaturen verborgen - unvorstellbar, unfassbar und damit umso schrecklicher.
    »Agostini meinte, ich soll dich holen«, sagte Griffin. »Er will mit uns raus auf die Brücke. Du kommst doch mit, oder?«
    Sie nickte heftig, verzog aber sofort das Gesicht, als der Kopfschmerz sich erneut bemerkbar machte. Trotzdem -jede Ablenkung war ihr recht. Sie stand auf, ein wenig schwankend, wusch sich notdürftig an der Quelle im Felsspalt und eilte dann mit Griffin ins Freie.
    Das Lager der Brückenbauer befand sich in einer Vielzahl winziger Höhlen, die das erkaltete Lavagestein auf dieser Seite der Insel wie Luftblasen durchzogen. Jolly und Griffin waren im Norden an Land gegangen; dort waren die Hänge des Bergkegels übersät mit Baumstümpfen, alt und ausgetrocknet, und der Boden hatte eine gelbbraune Färbung. Hier im Süden aber bedeckte eine graue, mehrere Meilen breite Schicht aus erstarrter Lava den Großteil des ehemaligen Vulkans. Vor Jahrtausenden musste sie sich aus dem Krater herabgewälzt haben und war auf ihrem Weg zum Wasser allmählich erkaltet. Die Zeit und das Wetter hatten einen verästelten Irrgarten aus Spalten und Schluchten in den Fels getrieben, der die Bewohner dieser Ödnis vor der Hitze, aber auch vor den gefürchteten Taifunen schützte.
    Mittlerweile war es vier Tage her, dass die beiden Schiffbrüchigen hungrig und durstig in das Lager des Brückenbauers Agostini und seiner Leute gestolpert waren. Die
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